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03.09.07  Mikroevolution, Makroevolution und „ID“

Eine Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution sollte sich an der Qualität der Veränderungen der Lebewesen und an entsprechenden unterschiedlichen Fragestellungen (kurz: Optimierung oder Konstruktion) orientieren. Nur dann kann die Frage nach der Entstehung des Neuen in der Biologie adäquat formuliert und darauf Forschung aufgebaut werden. „Makroevolution“ steht für die Entstehung neuer Konstruktionen. Dieser Vorgang kann nicht als Extrapolation von Variationsvorgängen wie Anpassungen, Spezialisierungen oder Optimierungen betrachtet werden“ (Junker 2006; vgl. Mikro- und Makroevolution). Auch manche Evolutionsbiologen teilen diese Einschätzung im Wesentlichen und halten eine qualitative Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution für angebracht.

Gibt es einen Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution? In der Kontroverse um Schöpfung und Evolution wird die Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution häufig als unsachgemäße Argumentationsstrategie der Kreationisten zurückgewiesen. Tatsächlich aber wächst die Zahl der Evolutionsforscher, die einen deutlichen Unterschied konstatieren. So stellt der Evo-Devo-Forscher Gerd B. Müller (2003, 51) fest (alle nachfolgenden Zitate sind aus dem Englischen übersetzt):

„Nur wenige Prozesse, die oben zusammengestellt sind, werden durch die kanonische neodarwinistische Theorie abgedeckt. Diese betifft hauptsächlich die Häufigkeit von Genen in Populationen und die Faktoren, die für ihre Variation und Fixierung verantwortlich sind. Obwohl sie sich auf phänotypischer Ebene mit der Modifikation existierender Teile befasst, zielt die Theorie weder auf die Erklärung des Ursprungs der Teile, noch auf die Erklärung ihrer morphologischen Organisation noch der Innovation ab. In der Welt des Neodarwinismus war der motivierende Faktor für morphologische Veränderung natürliche Selektion, die für die Modifikation und den Verlust von Teilen verantwortlich gemacht werden kann. Selektion besitzt aber keine innovative Fähigkeit: sie eliminiert oder erhält, was existiert. Die generativen und Ordnungsaspekte der morphologischen Evolution fehlen daher der Evolutionstheorie.“ Hier wird klar zwischen „Variation“, „Modifikation“, „Verlust“ und „Erhaltung des bereits Existierenden“ einerseits und „Ursprung der (Bau-)Teile“, „morphologischer Organisation“ und „Innovation“ andererseits unterschieden. Außerdem: Nur Ersteres werde durch den Neodarwinismus erklärt; Letzteres sei darin abwesend.

Ähnlich schreiben Müller & Newman (2003, 3; Hervorhebung im Original): „Die Frage, warum und wie bestimmte Formen in der organismischen Evolution auftauchen, betrifft nicht die Erhaltung (und die quantiative Variation) des Bestehenden, sondern vielmehr die Neuentstehung in einem qualitativen Sinne. Diese kausale Frage nach den spezifischen Bildungsmechanismen, welche dem Ursprung und der Neuentstehung phänotypischer Merkmale zugrunde liegen, kann wahrscheinlich am besten durch den Begriff Entstehung („origination") ausgedrückt werden. ... Das Auftauchen spezifischer phänotypischer Konstruktionselemente darf nicht als durch natürliche Selektion verursacht betrachtet werden; Selektion kann nur am bereits Existierenden wirken.“

Diese beiden Autoren formulieren als Ziel des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes Origination of Organismal Form, „die Unterscheidung zwischen Entstehung (Innovation) und Diversifikation (Variation) von Formen herauszuarbeiten, indem auf die Pluralität kausaler Faktoren abgehoben wird, die für den vernachlässigten ersteren Aspekt verantwortlich sind, nämlich den Ursprung der organismischen Form.“ Evolutionäre Innovation halten sie für nicht erklärt: „Eine der größeren Lücken in der kanonischen Evolutionstheorie besteht darin, dass man damit scheiterte, diesen Aspekt einzubeziehen." Damit aber fehlt der kausalen Evolutionsforschung Entscheidendes. Denn: Ohne „arrival of the fittest“ gibt es auch kein „survival of the fittest“.

Im gleichen Artikel stellen diese beiden Autoren 24 offene Fragen aus vier Teilgebieten der Evolutionsforschung zu den Mechanismen der Makroevolution zusammen. Die Fragen könnten kaum grundsätzlicher sein, und es kann wohl keinen Zweifel geben, dass angesichts eines solchen Bergs offener Fragen und angesichts des von den Autoren konstatierten qualitativen Unterschieds von Mikro- und Makroevolution die Mechanismen der Makroevolution als nicht geklärt gelten müssen. Nachfolgend sind neun dieser 24 Fragen und drei weitere Gebiete mit offenen Fragen in Übersetzung zusammengestellt:

Offene Fragen zur morphologischen Evolution nach Müller & Newman (2003)

1. Burgess shale-Effekt: Weshalb entstanden die Baupläne der Vielzeller explosionsartig?

2. Homoplasie: Weshalb entstehen ähnliche Gestalten unabhängig und wiederholt?

3. Konvergenz: Weshalb produzieren entfernt verwandte Linien ähnliche Designs?

4. Homologie: Weshalb organisieren sich Bauelemente als fixierte Baupläne und Organformen?

5. Neuheit: Wie werden neue Elemente in bestehende Baupläne eingeführt?

6. Modularität: Weshalb werden Design-Einheiten wiederholt verwendet?

7. Constraint: Weshalb sind nicht alle Design-Optionen eines phänotypischen Raums verwirklicht?

8. Atavismen: Weshalb erscheinen Merkmale, die lange Zeit in einer Linie verschwunden waren, erneut?

9. Geschwindigkeit: Weshalb sind die Raten morphologischer Veränderungen ungleich?

Müller & Newman listen weitere 15 offene Fragen aus diesen Gebieten auf:

•  Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp in Ontogenese und Phylogenese

•  Epigenese und ihre Rolle in der morphologischen Evolution

•  Theorie der morphologischen Evolution

Müller & Newman (2003, 7) folgern: „Mit anderen Worten: der Neodarwinismus hat keine Theorie für die Entstehung. Daraus folgt, dass die gegenwärtige Evolutionstheorie vorhersagen kann, was erhalten bleibt, aber nicht, was neu erscheinen wird." Und weiter: „Es fehlt immer noch eine Evolutionstheorie, die speziell die morphologischen Aspekte der Evolution betrifft und die Wechselwirkungen zwischen epigenetischen und genetischen Aspekten integriert.“

Ähnlich fasst Theissen (2006) den Begriff „Makroevolution“: „Ich werde den Begriff Makroevolution in einem engeren Sinne nur für diejenigen Evolutionsprozesse verwenden, die Innovationen (oder Neuheiten) hervorbringen oder Veränderungen in den Körperbauplänen“; dann stellt er fest: „Indem daran festgehalten wurde, dass Evolution graduell sein müsse und dass makroevolutionäre Muster vollständig und alleine durch das Wirken der natürlichen Selektion und durch Anpassung an die Umwelt erklärt werden könnten, machte die Synthetische Theorie überzogene Behauptungen und verließ daher den Bereich der Wissenschaft und entwickelte sich zu einer Ideologie (Wagner und Laubichler, 2004). … Während jedoch diese Prinzipien leicht erklären mögen, wie irgendeine Art von Organismus Ausgangspunkt für einen optimierten Organismus wird (welches Kriterium man auch zugrundelegt), ist kaum erkennbar, wie sie den Ursprung beispielsweise der Eukaryoten, der Pflanzen und Tiere von Prokaryoten, erklären kann. Studien an digitalen Organismen legen nahe, dass komplexe Funktionen durch Zufallsmutationen und natürliche Selektion entstehen können (Lenski et al., 2003), doch in welchem Ausmaß solche in silico-Studien evolutionäre Ereignisse in lebenden Organismen widerspiegeln, bleibt unklar“ (S. 352; Hervorhebung im Original. Die Studien von Lenski et al. [2003] können in der Tat nicht als Modellierung von Makroevolution gelten, wie Bertsch & Waldminghaus [2005] gezeigt haben; vgl. Evolution virtueller Lebewesen).

Aus paläontologischer Perspektive sieht Jablonski (2005, 511) die Sache ähnlich: „Das widersprechende Verhalten der Taxa, die einerseits als Gattungen eingestuft werden, andererseits als Ordnungen, legt nahe, dass der Ursprung neuer Designelemente, die das Potential zur Diversifikation und zur Ansammlung weiterer abgeleiteter Merkmale besitzen, von Faktoren gesteuert wird, die sich von denen unterscheiden, die den Ursprung der Arten verursachen und welche einfach nur weitere Arten und Gattungen hervorbringen.“

„Intelligent Design“ auf der Lauer? Angesichts der eingestandenen offenen Fragen zu den Mechanismen der Makroevolution stellt Theissen (2006, 365) etwas besorgt fest: „Es ist gefährlich, Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass es keine befriedigende Erklärung für Makroevolution gibt. Man wird leicht eine Zielscheibe der orthodoxen Evolutionsbiologie und ein falscher Freund von Befürwortern nicht-wissenschaftlicher Konzepte. Nach Ansicht der ersteren kennen wir bereits alle relevanten Prinzipien, die die Komplexität und Verschiedenartigkeit des Lebens auf der Erde erklären; für die letzteren wird Wissenschaft und Forschung nie in der Lage sein, eine schlüssige Erklärung zu liefern, ganz einfach weil komplexes Leben keinen natürlichen Ursprung hat. Aus einer heuristischen Perspektive sind beide Positionen unbefriedigend“ (Hervorhebungen nicht im Original). Wie man dem Problem der Erklärung von Makroevolution aus dem Weg gehen kann (erste Alternative in Theissens Zitat), liefert beispielhaft folgende Definition Futuymas: Makroevolution: „ein vager Begriff für die Evolution großer phänotypischer Veränderungen, die gewöhnlich groß genug sind, um die die veränderte Abstammungslinie und ihre Nachfahren in eine abgegrenzte Gattung oder ein höheres Taxon abzuteilen“ (zit. in Carroll 2001). Diese Definition verschleiert das Problem „Makroevolution“ und verhindert dadurch Ansätze zu deren Lösung. Man kann Makroevolution viel schärfer definieren (s. o.). Nicht der Begriff ist vage, wie Futuyma behauptet, sondern seine Definition. Die zweite Alternative in Theissens Zitat liefe darauf hinaus, Forschung in Ursprungsfragen zu unterlassen.

Es gibt aber noch einen dritten Weg: Makroevolution möglichst scharf definieren, offen einräumen, was ungeklärt ist und ergebnisoffen weiterforschen. Ergebnisoffenheit schließt in der naturwissenschaftlichen Forschung die Möglichkeit ein, dass Makroevolution als Prozess tatsächlich nicht belegt werden kann oder dass Versuche einer natürlichen Erklärungen für die Hypothese „Makroevolution“ permament scheitern. Ergebnisoffenheit heißt auch, die Option „Planung“ einzubeziehen, und Forschung zu betreiben, um (klar definierte) Indizien auf Planung festzustellen oder als unplausibel zu erweisen. Das wäre dann Forschung im Sinne des „Intelligent Design"-Ansatzes. Dieser Ansatz würgt Forschung weder ab (vgl. Ist „Intelligent Design“ wissenschaftsfeindlich?) noch führt er neue Methoden ein, sondern wirft Fragen auf, deren Beantwortung zu Erkenntnissen führen könnte, die man nicht gewinnen würde, wenn man diese Fragen nicht stellen würde.

Um abschließend den Bogen zur Erforschung der Makroevolution zu schlagen: Ergebnisoffene Forschung zu den Mechanismen der Makroevolution stellt strenggenommen nicht die Frage: „Welches sind die Mechanismen der Makroevolution?“ sondern: „Wie weit reichen die experimentell demonstrierten Evolutionsmechanismen?“

Literatur

Bertsch E & Waldminghaus T (2005) Evolution virtueller Lebewesen? Stud. Int. J. 12, 34-35.

Carroll SB (2001) The big picture. Nature 409, 669.

Jablonski S (2005) Evolutionary Innovations in the Fossil Record: The Intersection of Ecology, Development, and Macroevolution. J. Exp. Zool. 304B, 504-519.

Junker R (2006) Zur Abgrenzung von Mikroevolution und Makroevolution. Stud. Int. J. 13, 59-67.

Müller GB (2003) Homology: The Evolution of Morphological Organization. In: Müller GB & Newman SA (eds) Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Developmental and Evolutionary Biology. Vienna Series in Theoretical Biology. Cambridge, MA, pp 51-69.

Müller GB & Newman SA (2003) Origination of Organismal Form: The Forgotten Cause in Evolutionary Theory. In: Müller GB & Newman SA (eds) Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Developmental and Evolutionary Biology. Vienna Series in Theoretical Biology. Cambridge, MA, pp 3-12.

Theissen G (2006) The proper place of hopeful monsters in evolutionary biology. Theor. Biosci. 124, 349-369.

Autor dieser News: Reinhard Junker

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© 2007, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n93.php


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