05.05.25 Navaornis – ideales Bindeglied zwischen Archaeopteryx und heutigen Vögeln?
Ein hervorragend erhaltenes Vogelfossil der neu aufgestellten Gattung Navaornis aus der Oberkreide weist ein interessantes Merkmalsmosaik auf. Ein durch Computertomographie erstelltes 3D-Modell zeigt Merkmale, die zwischen dem „Urvogel“ Archaeopteryx und Vögeln stehen, wie wir sie heute kennen. Ist damit die frühe Evolution der Vögel geklärt, wie es in der Überschrift einer Zusammenfassung heißt? Mehrere Gründe sprechen dagegen. Vielmehr ist Navaornis ein Paradebeispiel dafür, dass Mosaikformen keine Übergangsformen sein müssen. Ein Team um Luis Chiappe vom Natural History Museum of Los Angeles County berichtet über den Fossilfund einer Vogelart namens Navaornis hestiae aus oberen Kreide Brasiliens, datiert auf ein Alter von 80 Millionen radiometrischen Jahren. Dessen Schädel ist außerordentlich gut in dreidimensionaler Form erhalten. Mittels computertomografischer Aufnahmen konnten die Forscher ein 3-D-Modell eines Schädelinnenausgusses (Endocast) anfertigen. Es sind aber auch viele andere Skelettteile fossil vorhanden (vgl. Abb. 494), die bisher offenbar nicht ausgewertet wurden. Der Schädelfund ist bedeutsam, 1. weil von den Vögeln aus Jura und Kreide nur sehr wenige Schädel dreidimensional erhalten sind und 2. weil er zeitlich und in der Ausprägung mancher Merkmale zwischen dem „Urvogel“ Archaeopteryx und „modernen“ Vögeln angesiedelt ist. Gemäß dem Zeitrahmen der Historischen Geologie klafft damit immer noch eine Lücke von etwa 70 Millionen radiometrischen Jahren zwischen Archaeopteryx und Navaornis, aus der keine Schädel in 3D-Erhaltung bekannt sind. Die Merkmalsanalyse weist Navaornis als Vertreter der sogenannten Gegenvögel (Enantiornithes) aus. Diese Vogelgruppe dominiert die Vogelwelt des geologischen Systems der Kreide: Es sind ca. 50 Gattungen aus fast allen Kontinenten entdeckt worden. Sie besetzten viele teils sehr unterschiedliche ökologische Nischen, waren in ihrer äußeren Körperform von heutigen Vögeln zwar wenig verschieden, wiesen jedoch einige markante Unterschiede im Skelettbau auf, die sie als separate Vogelgruppe ausweisen. Sie gelten allgemein als vergleichbar flugfähig wie heutige Vögel (Sanz et al. 2002; Navalón et al. 2015, 6; Überblick bei Junker 2022). Dennoch starben sie am Ende der Kreidezeit aus. Die mutmaßliche Evolution zu den heutigen Vögeln soll evolutionstheoretisch über eine andere Vogelgruppe verlaufen sein, den Ornithurae („Vogelschwänze“), die in Kreideschichten ebenfalls zahlreich vertreten sind. Der Schädel von Navaornis ist zahnlos und besitzt ähnlich heutigen Vögeln große Augenhöhlen, einen gewölbten Hirnschädel und ein knöchernes Labyrinth (Teil des Innenohrs, bei Navaornis ungewöhnlich groß). Andererseits weist er zahlreiche „ursprüngliche“ Merkmale (sog. Plesiomorphien) auf, darunter einen Schnabel, der von der Maxilla (Oberkieferknochen) dominiert ist, einen nicht-beweglichen Gaumen, eine Schläfe mit zwei Öffnungen (diapside Temporalkonfiguration), ein Kleinhirn von geringer Größe und ein schwach erweitertes Großhirn. Somit handelt es sich bei dieser neuentdeckten Vogelart um eine ausgeprägte Mosaikform. Die Gesamtgeometrie des Schädels ist dennoch kaum von den heutigen Vögeln verschieden – das bedeutet: gleiche Form trotz verschiedener Einzelelemente (Chiappe et al. 2024, 376). Die Gehirnstruktur von Navaornis liege fast genau in der Mitte zwischen Archaeopteryx und modernen Vögeln (S. 379), die Form des Endocasts (Schädelinnenraum) zeige ein Zwischenstadium in der Evolutionsgeschichte des Vogelgehirns (S. 380). Das 3D-Modell zeigt, dass Navaornis ein stärker ausgeprägtes Großhirn als Archaeopteryx hatte. Die meisten Bereiche seines Gehirns, etwa das Kleinhirn, waren jedoch weniger entwickelt als bei heutigen Vögeln. In einer Wissenschaftsmeldung von Spektrum der Wissenschaft wird daraus der Schluss gezogen, dass Navaornis über „stärkere kognitive Fähigkeiten“ als die (evolutionär) ältesten Vögel, jedoch noch nicht die komplexen Flugsteuerungsmechanismen seiner modernen Verwandtschaft besaß. In einer kurzen Zusammenfassung in Nature äußert sich Chiappe (2024) allerdings vorsichtiger (Hervorhebung hinzugefügt): „Diese Forschungen […] ermöglichen […] es uns nicht, die kognitiven Funktionen der Vögel, die während des Zeitalters der Dinosaurier lebten, vollständig zu verstehen. Hierfür ist ein viel detaillierteres Verständnis der Verbindung zwischen der Form des Gehirns und der kognitiven oder verhaltensbezogenen Ökologie erforderlich.“ Kritik Damit ist auch bereits ein Kritikpunkt bezüglich der evolutiven Bedeutung des Fundes angesprochen. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns kann weder aus einem Endocast (also der Form des Gehirns) noch aus dessen Größe sicher erschlossen werden. (Zur grundsätzlichen Problematik der Paläoneurologie siehe Brandt [2023] am Beispiel der sehr gut erforschten Homininen.) Hier ist schon deshalb Zurückhaltung in der Deutung angebracht, weil das postkranielle Skelett der Gegenvögel wie bereits erwähnt auf gute Flugfähigkeit hinweist. Dann aber müssen diese Vögel auch entsprechend leistungsfähige Gehirne besessen haben, auch wenn ihr Gehirn anders gebaut gewesen sein mag als bei heutigen Vögeln. Chiappe et al. (2024, 380) äußern die Auffassung, dass die Kombination aus „kronenvogelähnlichen“ (auch heute vorkommenden) und plesiomorphen (ursprünglichen) Merkmalen mit Hypothesen einer modularen Evolution übereinstimme. Danach entwickeln sich verschiedene anatomische Regionen quasi unabhängig voneinander in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Allerdings ist eine völlige Unabhängigkeit der Schädelelemente wegen unvermeidlicher Abhängigkeiten auch bei modularem Aufbau nicht möglich. Das gilt erst recht, wenn es um verschiedene Teile desselben Organkomplexes (Schädel und Gehirn) geht. „Modulare Evolution“ ist daher nur ein Schlagwort, im Grunde genommen eine semantische Verschleierung eines Evolutionsproblems. Ob nämlich auch eine biologische Realität dahintersteckt, dürfte mit dem verfügbaren Wissen bei Navaornis vorerst nicht zu klären sein. Gegen eine besondere evolutive Bedeutung spricht schließlich auch folgender Umstand: Navaornis wird als Gegenvogel eingestuft und in einer phylogenetischen Analyse erscheint diese Gattung an einer tief eingeschachtelten Position, weit entfernt von einer Übergangsstellung zwischen Archaeopteryx und heutigen Vögeln ( Abb. 495). In evolutionstheoretischer Deutung handelt es sich somit um ein blindes Ende. Navaornis ist daher ein Paradebeispiel dafür, dass eine Mosaikform oder Zwischenform nicht automatisch als Bindeglied bzw. Übergangsform interpretiert werden muss. Bei Navaornis ist die Deutung als Bindeglied wie in vielen anderen Fällen praktisch ausgeschlossen. Aufgrund der phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Stellung ist dies in diesem Fall (wie in vielen anderen Fällen) sogar völlig ausgeschlossen. Evolutionstheoretisch folgt daraus, dass der „beispiellose Grad an Ähnlichkeit zwischen Kronenvögeln und Gegenvögeln“ (Chiappe et al. 2024, 376) in der Schädelgeometrie von Navaornis entweder konvergent entstanden ist, also zweimal unabhängig, oder dass sie ein sehr altes Erbe aus der Zeit vor 130 Millionen radiometrischen Jahre darstellt und schon vorhanden war, bevor sich die Vorfahren der Ornithothoraces (die die Gegenvögel und Ornithurae umfassen) in diese beiden Gruppen aufspalteten: „Das Vorhandensein einer nach unten gebogenen Gehirnkonfiguration, nach unten verlagerter Sehnerven und eines vergrößerten sinusförmigen Labyrinths bei Navaornis deutet darauf hin, dass die Ursprünge dieser ‚fortschrittlichen‘ Merkmale, die oft mit Kronenvögeln in Verbindung gebracht werden, entweder vor der Entstehung von Ornithothoraces lagen oder sich konvergent sowohl bei Enantiornithes als auch bei kronenwärts gerichteten Euornithes [heutige Vögel und fossile verwandte Formen] entwickelt haben“ (Chiappe et al. 2024, 380). Beide Deutungen sind evolutionstheoretisch jedoch problematisch. Denn eine so weitreichende Konvergenz wäre sehr unwahrscheinlich und die Existenz eines vergleichsweise „modernen“ Schädels bereits an der Basis der Gegenvögel und der Ornithurae wäre unerwartet – und ist auch sonst nicht fossil bestätigt. In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, dass nur der Schädel in der Arbeit von Chiappe et al. (2024) untersucht wurde. Ohne genauere Kenntnis über das postkranielle Skelett sind weitreichende Schlussfolgerungen über den Status von Navaornis im System der Vögel nicht möglich. Davon, dass Navaornis „die die frühe Evolution der Vögel klärt“, wie es in der Überschrift von Chiappes (2024) Zusammenfassung formuliert wird, kann jedenfalls keinesfalls die Rede sein. Mittlerweile wurde mit Baminornis eine Vogelgattung entdeckt, die in etwas gleichalten Schichten wie Archaeopteryx entdeckte wurde und einige „fortschrittliche“ Merkmale aufweist (Chen et al. 2025). Damit dürfte Archaeopteryx seine Position als evolutionäres Bindeglied wohl endgültig verlieren (siehe Baminornis befördert Archaeopteryx auf das Abstellgleis). Literatur Chen R et al. (2025) Earliest short-tailed bird from the Late Jurassic of China. Nature 638, 441–448, doi: 10.1038/s41586-024-08410-z. Chiappe LM (2024) Fossilized bird skull from 80 million years ago clarifies early avian evolution. Nature Research Briefings, https://doi.org/10.1038/d41586-024-03694-7. Chiappe LM & Dyke GJ (2002) The mesozoic radiation of birds. Annu. Rev. Ecol. Syst. 33, 91–124. Chiappe LM, Navalón G et al. (2024) Cretaceous bird from Brazil informs the evolution of the avian skull and brain. Nature 635, 376–381, doi: 10.1038/s41586-024-08114-4. Junker R (2022) Die Gegenvögel der Kreide – Vögel 1.0. Stud. Integr. J. 29, 41–43. Navalón G et al. (2015) Soft-tissue and dermal arrangement in the wing of an Early Cretaceous bird: Implications for the evolution of avian flight. Sci. Rep. 5, 14864, doi:10.1038/srep14864. Brandt M (2023) Gab es Vormenschen? Irrungen und Wirrungen in der Paläoneurologie. In Brandt M: Frühe Homininen. Studium Integrale Special. Holzgerlingen: SCM Hänssler, S. 135–158.
Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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