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22.04.24  Alles Gute zum 50. Jubiläum, liebe Lucy … Ein Rückblick auf die Forschungsgeschichte um den berühmtesten vermeintlichen „Vormenschen“

Vor genau 50 Jahren wurde das berühmte Skelett namens „Lucy“ von der Art Australopithecus afarensis in Hadar in Äthiopien gefunden. Seinen Spitznamen erhielt Lucy aufgrund des Beatle-Songs „Lucy in the Sky“, den die Forscher am Ausgrabungstag hörten. Anlässlich des 50. Jubiläums hat Ann Gibbons (2024) in Science News einen Rückblick über die Forschungsgeschichte dieses berühmtesten aller sogenannten „Vormenschen“ verfasst, der auf 3,18 Millionen radiometrische Jahre (MrJ) datiert wird. Im Folgenden werden einige Gedanken dieses Artikels aus Schöpfungsperspektive kommentiert: Es zeigt sich, dass Lucy bis heute zwar der beste Kandidat als „Vormensch“ gilt; dies ist aber kein Zeichen der Stärke, sondern gerade der Schwäche für die Evolutionsperspektive.

 

Einleitung

Wie berühmt Lucy mittlerweile ist, zeigt ein Zitat des äthiopischen Paläoanthropologen Zeresenay Alemseged, der den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama das Fossil berühren ließ, und dabei sagte, dass „jeder einzelne Mensch“ somit aus Afrika stamme – „einschließlich Donald Trump“ (Gibbons 2024). Und einer der Entdecker von Lucy – der Paläoanthropologe Donald Johanson – meint selbstbewusst: „Die wahre Bedeutung von Lucy liegt darin, dass wir [vorher] nicht wussten, wie ein früher menschlicher Vorfahre aussah“ (Gibbons 2024).

 

Die verschiedenen Australomorphen

Doch stimmt das auch? Ist Lucy der ultimative Beweis für eine Evolution des Menschen aus schimpansenähnlichen Vorfahren über den „Vormenschen“ Australopithecus afarensis?

Von Lucys Skelett liegen ca. 40 Prozent vor (vgl. Gibbons 2024). Das ist außergewöhnlich viel. Daher war der damalige Fund ein wahrer Glücksgriff, da man von so alten Fossilien sonst in der Regel nur wenige Knochen oder gar nur Bruchstücke von Knochen findet.

Im Laufe der Zeit wurden von ca. 400 Individuen von Lucys Art Australopithecus afarensis (meist kleine) Fossilüberreste mit einem Alter von 3,85 bis 2,95 MrJ entdeckt. Bis heute wurden je nach Zählweise ca. 10 weitere Australopithecus-Arten sowie eine Handvoll weiterer Arten sogenannter Vormenschen entdeckt, die man unter dem Überbegriff Australomorphen zusammenfassen kann (vgl. Scholl 2022a; Wood & Boyle 2016). Manche davon sind sogar noch älter oder genauso alt sind wie Lucys Art: Australopithecus anamensis und deyiremeda, der Burtele-Fuß, Kenyanthropus, Ardipithecus, Orrorin und Sahelanthropus (vgl. Gibbons 2024). Dies führte dazu, dass aus dem zuerst erwarteten evolutionären „Stammbaum“ ein „Stammbusch“ wurde – „mit verschiedenen Stämmen nebeneinander“ (Gibbons 2024).

 

Ungeklärte Abstammungsverhältnisse bei Australomorphen

Die Beziehungen der verschiedenen Australomorphen stecken für Evolutionsbiologen aber nach wie im Dunkeln.1 Als man nämlich den ersten vollständigen Schädel von Australopithecus anamensis im Jahr 2016 fand, war die etablierte und gängige „Vorstellung, dass sich A. anamensis direkt zu Lucys Art entwickelt hat und dann verschwunden ist, […] vom Tisch“ (Gibbons 2024). Beide Arten überlappten zeitlich und müssen keine direkte Vorfahren-Nachfahren-Beziehung miteinander gehabt haben. Der evolutionskritische Paläontologe Günther Bechly (2019) kommentierte diese Entwicklung folgendermaßen: Eigentliche sage Darwins Theorie viele solcher allmählichen Übergänge von Art zu Art ohne Verzweigungsereignisse voraus (= Anagenese), wie auch der berühmte Evolutionspromotor Richard Dawkins betont hatte. „Solche Beweise erwiesen sich jedoch als schwer zu finden […], und der Fall des vermeintlichen Übergangs von A. anamensis zu A. afarensis war ‚einer der stärksten Fälle für Anagenese im Fossilbericht‘ (Melillo zitiert in Marshall 2019, Kimble et al. 2006, Haile-Selassie 2010). Dieser stärkste Fall hat sich nun verflüchtigt […]“ (Bechly 2019).

Das zentrale Problem bei den Fossilien liegt nämlich darin, dass die jeweils eigenen Merkmalsmosaike der Arten das Aufstellen einer stimmigen Abstammungsreihe entsprechend den Merkmalen nicht ermöglichen. So widersprechen sich Schädel- und Körperskelettmerkmale bei vermeintlichen Vormenschen bzw. bei deren angeblichen Vorfahren häufig (vgl. Hartwig-Scherer 1998; Scholl 2022b). Hartwig-Scherer hatte bereits im Jahr 1998 darauf hingewiesen, dass die Langknochen von Australopithecus anamensis nicht für eine Abstammung von Australopithecus afarensis sprechen, wie es die damals bekannten „primitiven“ Schädelreste nahelegten (vgl. Brandt 2020), sondern für die gegenteilige Abstammungsfolge. Außerdem finden sich beim 2016 entdeckten Waranso-Mille-Schädel von Australopithecus anamensis sowohl „primitive“ als auch „fortschrittliche“ Merkmale, die in unterschiedliche evolutionäre Richtungen weisen und damit einer linearen Evolutionsgeschichte bzw. Anagenese widersprechen (Brandt 2020).

In anderen Fällen ist es sogar noch schwerer, evolutionäre Beziehungen zwischen den Arten der Australomorphen aufzustellen: „Die Identifizierung des direkten Vorfahren von Homo ist eine Herausforderung, sagt [Paläoanthropologe Carol] Ward, zum Teil, weil wir nicht viel über den frühen Homo wissen‘“ (Gibbons 2024). Brandt (2023, 121–130) und Scholl (2022a) haben allerdings wiederholt betont, dass die vermeintlichen frühen „Homo“-Arten wie habilis und rudolfensis im Gegensatz zu Homo erectus keine echten Menschen waren und auch offiziell aus der Gattung Homo ausgeschlossen worden sind (Wood & Collard 1999; Collard & Wood 2015). Dies wird aber von den meisten Paläoanthropologen wie auch von Gibbons (2024) beharrlich ignoriert.

 

Lucy ist auch heute noch der beste Kandidat als Vormensch

Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung Lucy in Anbetracht von so vielen anderen Australomorphen für die Frage nach der Abstammung des Menschen in der Evolutionstheorie heute noch zukommt.

Gibbons (2024) schreibt zurecht über ähnlich alte oder noch ältere Funde als Lucy: Die Art des 3,4 MrJ alten Burtele-Fußes „lebte zur gleichen Zeit wie A. afarensis, ist aber primitiver, mit einer opponierbaren großen [Greif-]Zehe wie die des baumkletternden Ardipithecus.“ Und für den 3,5 bis 3,3 MrJ alten Australopithecus deyiremeda gilt (ebd.): „Niemand behauptet, dass A. deyiremeda ein näherer Vorfahre von Homo ist als Lucy.“ Über den 4,4 MrJ alten Ardipithecus ramidus und den 5,8 MrJ alten Ardipithecus kadabba schreibt Gibbons (2024) wiederum: „Diese primitiven Homininen sahen eher wie aufrechte Affen als wie Menschen aus. ‚Man würde sie nicht zum Essen einladen‘, scherzte [Tim] White. Ardipithecus, sagt er, ‚macht Lucy und Co. im Vergleich geradezu menschlich‘.“

Auch kein anderer der Australomorphen, die älter als 2 MrJ sind, konnte Lucy bisher den Platz als vermeintlich bester Kandidat als Vormensch streitig machen: „Derzeit ist keiner der neuen Homininen als direkter Vorfahre von Homo überzeugend. Alemseged und einige andere setzen nach wie vor auf Lucy: Sie weisen darauf hin, dass keine Fossilien ihre Spezies eindeutig von ihrem Platz als mutmaßlicher Vorfahre des frühen Homo und späterer Mitglieder von Australopithecus verdrängen“ (Gibbons 2024).

Haile-Selassie und andere Kollegen hingegen „sehen Lucy heute eher als eine Ur-Ur-Großtante denn als direkte menschliche Vorfahrin“ (Gibbons 2024).

Auch der berühmte Paläoanthropologe Bernhard Wood ist trotz der Bedeutsamkeit von Lucy nicht wirklich sicher, dass sie ein Vorfahre des Menschen war: „Ich glaube nicht, dass es etwas gab, das Lucy [als bestes Bindeglied] erfolgreich verdrängt hat … Das heißt nicht, dass sie der Vorfahre von Homo war. Aber sie ist immer noch der beste Kandidat“ (Gibbons 2024).

 

Auch Lucy passt nicht als menschlich-aufrecht gehender „Vormensch“

Dies zeigt, dass der Arzt und Schöpfungswissenschaftler Michael Brandt (2023) recht hatte, als er argumentierte, dass Lucys Art Australopithecus für die vermeintliche Evolutionsgeschichte des Menschen von zentraler Bedeutung sei (vgl. Hartwig-Scherer 1998). Keine andere Art von vermeintlichen Vormenschen kommt als Bindeglied für den ausdauernden, menschlich-aufrechten Gang in Frage (siehe auch die Argumentation zu anderen Australomorphen in Brandt 2023). Doch auch Lucy passt nicht. Brandt (2023) hat viele Argumente der Fachliteratur zusammengetragen, um zu zeigen, dass Lucy weder ein obligater (zwingender) Zweibeiner auf dem Boden war, noch dass aus ihren Knochenmerkmalen ein menschlich aufrechter Gang abgeleitet werden kann. Tatsächlich zeigen Lucys einzigartiger Merkmalsmix und viele schimpansen- und menschenunähnlichen Merkmale in den für die Fortbewegung wichtigen Körperbereichen wie Extremitäten, Becken und Wadenbein, dass sie in Bäumen kletterte, sich nichtmenschlich aufrecht am Boden fortbewegte und wahrscheinlich auch vierfüßig unterwegs war (Brandt 2023, 97­–120).

Abb. 451 Australopithecus afarensis (AL 288-1) in rekonstruierter bipeder (zweibeiniger) und quadrupeder (vierfüßiger) Fortbewegung. „Lucy“ konnte auf dem Erdboden wahrscheinlich nur ineffektiv kurze Strecken langsam auf zwei Beinen gehen (s. Brandt 2023). Eine effektive Fortbewegung auf dem Erdboden über längere Strecken erfolgte dagegen wahrscheinlich auf allen Vieren. Außerdem kletterte Australopithecus afarensis. (Zeichnungen von Marion Bernhardt, zweibeinige Körperhaltung nach einem Foto des rekonstruierten Skeletts von Chip Clark, Smithsonian Institution, https://humanorigins.si.edu/evidence/human-fossils/fossils/al-288-1)

Dies spricht dafür, dass Lucy eine ausgestorbene Großaffenart war, die nichts mit der Evolution des Menschen zu tun hatte. Nicht nur bei Brandt (2023), sondern auch bei Gibbons finden sich darauf indirekte Hinweise, die nämlich die Affenähnlichkeit von Lucy betonen und damit Zweifel an einem „Vormenschen-Status“ säen. So schreibt Gibbons (2024): Donald Johanson war „sofort beeindruckt, wie klein und primitiv Lucy im Vergleich zu den bekannten Vertretern von Australopithecus wie z. B. A. africanus“ war. Er sagte nämlich: „Ich war beeindruckt von ihren eher affenähnlichen Merkmalen“ (ebd.). Auch der Paläoanthropologe Tim White sieht es ähnlich, da Lucy so affenähnlich ist, dass damals „die implizite Hypothese war, dass der nächste Schritt zurück ein Schimpanse sein würde […]. Wie altmodisch das heute erscheint“ (Gibbons 2024).2

Nebenbei bemerkt bekommt die Idee, dass die ca. 3,6 MrJ alten Fußspuren von Laetoli im Norden Tansanias beweisen würden, Lucys nahe Verwandten seien aufrecht gegangen, ebenfalls Risse. Gibbons (2024) schreibt nämlich: Der Paläoanthropologe Charles „Musiba und seine Kollegen schlugen jedoch vor, dass die Abdrücke von aufrecht gehenden [Individuen] stammen – Homininen mit anderen Füßen und einer anderen Gangart als Lucys Art“ (Gibbons 2024). Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, um zu klären, ob zumindest einige der Fußspuren von Laetoli nicht doch von fossil bisher nicht entdeckten echten Menschen statt von großaffenähnlichen Australomorphen erzeugt worden sind.

Trotz einiger menschenähnlicher Merkmale an den Handknochen ist außerdem längst nicht klar, ob Lucy tatsächlich Steinwerkzeuge herstellen konnte – davon abgesehen, dass solche Schlüsse von Knochenmerkmalen auf so komplexe biomechanische Tätigkeiten rein spekulativ sind (vgl. Brandt 2023, 207–288). Zudem wurden in Laetoli bzw. Hadar, wo hunderte Fossilien von Australopithecus afarensis gefunden worden sind, gar keine Steinwerkzeuge entdeckt. Allerdings wurden in der Nähe des auf 3,3 MrJ datierten „Dikika-Child“, einem Jungen von Lucys Art Australopithecus afarensis, Steinwerkzeuge in nur 222 Meter Entfernung gefunden. Dennoch mahnt die Steinzeit-Archäologin Sonia Harmand: „Wir wissen nicht, ob Lucy eine Werkzeugmacherin war“ (Gibbons 2024).

 

Fazit

Was lässt sich aus alledem schlussfolgern?

Gibbons (2024) resümiert sehr treffend – obwohl sie natürlich weiterhin am evolutionären Paradigma festhält: „Lucys Status als Vorfahre des Menschen mag ungewiss sein […]“. Frustriert kommentiert auch der Paläoanthropologe Fred Spoor: „Es ist zu simpel, aus einem unvollständigen Fossilbericht Vorfahren und Nachkommen von derzeit bekannten Arten zu konstruieren“ (Gibbons 2024). Sein Kollege Bernhard Wood rechnet sogar damit, dass wir niemals einen direkten Vorfahren des Menschen finden könnten: „In Anbetracht der Seltenheit von Fossilien bei Homininen und der Tatsache, dass nur wenige gefunden wurden, werden wir vielleicht nie einen Blick auf unseren direkten Vorfahren werfen können, sagt Wood“ (Gibbons 2024).

Lucys Status als echter Vormensch, der unsere evolutionäre Herkunft beweist und gar menschlich aufrecht ging, ist mehr als zweifelhaft. Da alle anderen sogenannten „Vormenschen“ aber noch viel weniger als Bindeglieder hin zum Menschen geeignet sind, sollte sich nach vielen Jahrzehnten der Forschung eigentlich jeder Paläoanthropologie mehr und mehr die Frage stellen: Hat es Vormenschen überhaupt gegeben, oder weist das Scheitern evolutionärer Modelle nicht vielmehr darauf hin, dass der Mensch (wie auch ein oder mehrere Schöpfungseinheiten / Grundtypen von Australomorphen) fertig als solcher direkt von einem Schöpfer erschaffen worden ist?

 

Literatur

Bechly G (2019) Apeman Waves Goodbye to Darwinian Gradualism. Evolutionsnews vom 06.09.2019, https://evolutionnews.org/2019/09/apeman-waves-goodbye-to-darwinian-gradualism/.

Brandt M (2020) Neuer Australopithecus-Fund und das Grundtypmodell. Stud. Integr. J. 27, 42–43.

Brandt M (2023) Frühe Homininen. Studium Integrale Special. 2. erw. Aufl. SCM Hänssler. Holzgerlingen.

Collard M & Wood B (2015) Defining the Genus Homo. In: Henke W, Hardt T & Tattersall I (Ed.) Handbook of Paleoanthropology. Springer-Verlag, 2107–2144, doi: 10.1007/978-3-642-39979-4_51.

Gibbons A (2024) Lucy’s world. Was Lucy the mother of us all? Fifty years after her discovery, the 3.2-million-year-old skeleton has rivals. Science News vom 04.04.2024, doi: 10.1126/science.zr6fwrp.

Hartwig-Scherer S (1998) Wenn sich Kopf und Beine widersprechen: Neue Konflikte in der Hominidenevolution. Stud. Integr. J. 5, 89–90, http://www.si-journal.de/index2.php?artikel=jg5/heft2/sij52-9.html.

Scholl B (2022a) Homininen-Schädel: „Stolpersteine“ des Grundtypmodells? Eine schöpfungstheoretische Deutung der Funde von Dmanisi. W+W Special Paper B-22-1, https://www.wort-und-wissen.org/artikel/homininen-schaedel/.

Scholl B (2022b) „Totales Chaos“: Unklare Abstammungsverhältnisse bei Menschenaffen und Menschen. W+W Special Paper B-22-2, https://www.wort-und-wissen.org/artikel/miozaene-affen/.

Villamil CI & Middleton ER (2024) Conserved patterns and locomotor-related evolutionary constraints in the hominoid vertebral column. J. Human. Evol. 190, 103528, https://doi.org/10.1016/j.jhevol.2024.103528.

Wood B & Boyle EK (2016) Hominin Taxic Diversity: Fact or Fantasy? Am. J. Phys. Anthropol. 159, 37–78, doi: 10.1002/ajpa.22902.

Wood B & Collard M (1999) The changing face of genus Homo. Evol. Anthropol. 8, 195–207, https://doi.org/10.1002/(SICI)1520-6505(1999)8:6<195::AID-EVAN1>3.0.CO;2-2.

 

Anmerkungen

[1] Die folgenden Zitate von Villamil & Middleton (2024; kursive Hervorhebungen hinzugefügt) zeigen, dass Homoplasie / Konvergenz – also solche Merkmale, die gleich oder ähnlich sind, aber auch für Evolutionsbiologen keine Argumente für eine gemeinsame Abstammung sind – die Evolutionsbiologen insbesondere hinsichtlich der Rekonstruktion der Fortbewegungsweise vor riesige Probleme stellen, wenn man versucht, Abstammungsverhältnisse der Homininen zu rekonstruieren: „Die Evolution der Hominoiden-Linie (Menschenaffen) ist durch eine weit verbreitete Homoplasie gekennzeichnet, vor allem in Bereichen wie der Wirbelsäule, die eine zentrale Rolle bei der Körperstütze und der Fortbewegung spielt. Von den meisten fossilen Hominoiden-Taxa (-Gruppen) sind nur wenige isolierte und weniger assoziierte Wirbel bekannt, aber die identifizierten Exemplare weisen auf ein potenziell hohes Maß an Konvergenz in Bezug auf Form und Anzahl hin. Die Homoplasie erschwert daher Versuche, die Anatomie des letzten gemeinsamen Vorfahren der Homininen und anderer Taxa zu bestimmen, und behindert Rekonstruktionen von Evolutionsszenarien. […] Angesichts der Unterschiede zwischen fossilen Homininen und heutigen Mitgliedern der Hominoidea [Menschenaffenartige] und des Fehlens von Exemplaren aus der Zeit der Divergenz zwischen Paninen und Homininen [d. h. die Zeit, in der sich Schimpansen- und Menschenlinie auseinander entwickelt haben sollen] gibt es keine eindeutige Möglichkeit, den Zustand des letzten gemeinsamen Vorfahren (LCA) dieser Gruppen und die Verhaltensweisen und Wirbelsäulenanatomien, die der Zweibeinigkeit der Homininen zugrunde liegen, zu beurteilen. […] Zusätzlich zu dem allgemeinen Mangel an frühen Individuen sind die Anpassungen an die Fortbewegung und die Körperhaltung bei Primaten und Nichtprimaten, die ähnliche Verhaltensweisen ausüben, konvergent. […] Die Konvergenz zwischen den Taxa hat unsere Fähigkeit zur Interpretation der Fossilienaufzeichnungen in Bezug auf die Evolution der Hominoiden im Allgemeinen und der Homininen im Besonderen erschwert. Neue Fossilfunde stellen grundlegende Annahmen in Frage, wonach die Ähnlichkeit von Merkmalen bei eng verwandten Arten auf eine gemeinsame Abstammung zurückzuführen ist (Wood und Harrison, 2011). Analysen des Oberschenkelknochens von Orrorin tugenensis, einem mutmaßlichen Homininen, der auf sechs Millionen Jahre vor heute datiert wird, legen beispielsweise nahe, dass viele gemeinsame Aspekte der Oberschenkelmorphologie von Hominoiden in jedem Taxon unabhängig voneinander entstanden sind […].“ Diese Befunde haben laut Autoren zu einer anhaltenden Debatte über Homoplasie in der Abstammungsgeschichte des Menschen geführt (s. auch Scholl 2022b). Villamil & Middleton (2024), die selbst eine umfassende Analyse der Wirbelsäule bei Makaken, Gibbons, Schimpansen und Menschen durchgeführt haben – aber leider nicht bei fossilen Arten –, schlussfolgern daher: „Aufgrund dieser Schwierigkeiten brauchen wir neue Wege, um die Evolution der hominoiden Bewegungs- und Haltungsanpassungen zu verstehen“.

[2] Leider ist nicht ganz klar, worauf White die Affenähnlichkeit bei Lucy hier bezogen hat. Tatsache ist und bleibt aber, dass die Merkmale von Schädel und Gebiss bei Australopithecus afarensis großaffenähnlicher sind als die des jüngeren Australopithecus africanus, welcher wiederum ein „primitivere“ Körperproportionen als Lucys Art besitzt (vgl. Hartwig-Scherer 1998). Dies ist ein typischer Merkmalskonflikt aus evolutionärer Perspektive.

Autor dieser News: Benjamin Scholl

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