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30.11.22  Ist Lamarck zurück?

Die Vererbung erworbener Eigenschaften ist bei Korallen doch möglich

Nach gängiger Auffassung kann eine neue Mutation nur dann zu evolutionären Veränderungen beitragen, wenn sie in Zellen des Fortpflanzungssystems auftritt, d. h. in einer Ei- oder Samenzelle. Mutationen in allen anderen Körperzellen gelten als evolutionär irrelevant, da sie nicht an die Nachkommen vererbt werden. Diese Sichtweise scheint nicht durchweg zu stimmen. Zumindest bei Korallen ist die Vererbung erworbener Merkmale ein Mechanismus für Veränderungen nun tatsächlich nachgewiesen. Dies bestätigt teilweise die Ansichten des Naturforschers Jean Baptiste de Lamarck im 19. Jahrhundert, welche man ca. ein Jahrhundert ignoriert hatte.

Im Jahr 1809 stellte Jean-Baptiste de Lamarck eine erste ausgearbeitete  Evolutionshypothese auf, die sich weitgehend auf die Vererbung erworbener Merkmale stützte. Er argumentierte, dass sich Organismen im Laufe des Lebens an bestimmte ökologische Herausforderungen anpassen würden, und dass diese Anpassungen an die Nachkommen vererbt werden könnten.

1892 veröffentlichte August Weismann (1834–1914) die Hypothese, dass somatische Mutationen, die während des Lebens eines Tieres in den Körperzellen erworben werden, evolutionär irrelevant sind, weil sie die angenommene Barriere (die so genannte Weismann-Schranke) zwischen Soma (Körperzellen) und Keimbahn (Keimzellen) nicht überwinden und somit nicht zur genetischen Variation der nächsten Generation beitragen können. Er widersprach damit der Möglichkeit der Lamarck‘schen Evolution: Von den Eltern erworbene Merkmale könnten niemals zu an die Nachkommen vererbt werden.

Alle nachfolgenden Evolutionstheorien stützten sich stark auf die Weismann-Schranke, wonach weder die Körperzellen eines Organismus noch die Umwelt das genetische Erbe beeinflussen können. Anpassungen sind insofern zufällig, als Variation (infolge von Mutationen des Erbgutes) zufällig ist. Die zweite treibende „Kraft“ der Darwin’sche Evolution ist die natürliche Auslese, wonach die am besten Angepassten in der Regel die meisten Nachkommen haben. Auf diese Weise soll Evolution erfolgen.

Auch wenn die Geschlechtszellen vollständig von den Körperzellen getrennt sein sollten, könnte es dennoch molekular-genetische Mechanismen geben, durch die die Geschlechtszellen über die Umwelt informiert werden und die Nachkommen dadurch mit möglichen Anpassungen vorbereitet werden. Dass dies tatsächlich der Fall ist, wurde inzwischen in der Literatur ausführlich dokumentiert (Lacal & Ventura 2018, Miryeganeh & Saze 2020, Triantaphyllopoulos et al. 2016). Man spricht von epigenetischer Vererbung. Epigenetisch vererbbare Merkmale sind jedoch oft nicht mit Mutationen in der DNA verbunden, sondern betreffen in der Regel die Regulation der DNA. Ob sie stabil über viele Generationen vererbbar sind, ist bisher weitgehend ungeklärt.

Bei sich sexuell fortpflanzenden Organismen verschwinden vorteilhafte Mutationen der DNA in der Regel durch zufällige genetische Drift und werden fast nie in der Population fixiert.  Nur wenn die Selektion sehr stark ist, d. h. wenn die Mutation einen enormen Reproduktionsvorteil bringt, kann sich eine vorteilhafte Mutation häufiger in der gesamten Population durchsetzen. Es wäre daher von großem Wert, wenn adaptive (vorteilhaft angepasste) Veränderungen direkt, also ohne Beteiligung von Geschlechtszellen vererbt werden könnten. Dies geschieht bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung wie z. B. bei Ablegern von Pflanzen, wenn die Mutationen zuvor in den für die Ableger-Bildung zuständigen Zellen aufgetreten sind. Wäre dies auch bei der sexuellen Fortpflanzung möglich, würde das dem Lamarck‘schen Konzept der genetischen Anpassung entsprechen. Somatisch erworbene Merkmale müssten auf irgendeinem Wege auch auf die Geschlechtszellen übertragen werden, damit sie dauerhaft vererbbar bleiben.

Entdeckung einer Lamarck’schen Vererbung

Die Entdeckung eines internationalen Wissenschaftlerteams unter der Leitung von Biologen der Penn State University offenbart nun tatsächlich einen neuartigen Mechanismus zur Anpassung an sich rasch verändernde Umweltbedingungen, der dem Lamarck'schen Mechanismus sehr ähnlich ist (Kuntz et al. 2022). Das Forschungsteam analysierte die DNA-Unterschiede in einer großen Kolonie von Elchgeweih-Korallen (Acropora palmata) mit Nachkommen eines einzigen Elternteils (also mit eingeschlechtlicher Fortpflanzung) sowie in DNA-Proben von fünf benachbarten Kolonien.

Wie die meisten Korallen können sich auch die Elchgeweih-Korallen sowohl ungeschlechtlich (durch Knospung) als auch geschlechtlich (durch Produktion von Ei- und Samenzellen) fortpflanzen. Bei den hier untersuchten Elchhornkorallen, die ihre Ei- und Samenzellen beim Laichen ins Wasser abgeben, werden die Eier einer Korallenkolonie in der Regel durch Spermien einer benachbarten Kolonie befruchtet. Das Forscherteam fand jedoch heraus, dass sich einige Eier der Elchhornkoralle auch ohne Befruchtung zu lebensfähigen Nachkommen entwickeln können.

Die Ergebnisse zeigten, dass die separaten Korallenkolonien (also die o. g. benachbarten Kolonien) zu derselben ursprünglichen Koralle gehört haben. Dies bedeutet, dass es sich um Klone handelt, die von einer einzigen Originalkolonie abstammen, die sich durch ungeschlechtliche Fortpflanzung (Knospung) vermehrt hat. Jede genetische Variation, die bei den heutigen Korallen in diesen Kolonien gefunden wurde, muss also das Ergebnis einer somatischen Mutation gewesen sein.

Das Team fand insgesamt 268 somatische Mutationen in den Proben, wobei jede Korallenprobe zwischen 2 und 149 somatische Mutationen aufwies. Das Team untersuchte außerdem die Ein-Eltern-Nachkommen der Elchkorallen-Elternkolonie und stellte fest, dass 50 Prozent der somatischen Mutationen vererbt worden waren (Kuntz et al. 2022).

Der genaue Mechanismus, wie die somatischen Mutationen ihren Weg in die Keimzellen der Korallen finden, ist noch unbekannt, aber die Forscher vermuten, dass die Trennung zwischen Körper- und Keimzellen in Korallen unvollständig ist und einige Körperzellen die Fähigkeit behalten, Keimzellen zu bilden, wodurch somatische Mutationen ihren Weg in die Nachkommen finden können (Penn State 2022). Ein ähnlicher Mechanismus, der von John A. Davison unter dem Begriff „semi-meiotische Hypothese“ ausführlich erörtert wurde, könnte ein relevanter nicht-darwinistischer Mechanismus für Anpassungen und Artbildung sein (Davison 1984).

Einer der Autoren kommentierte: „Da Korallen als Kolonien genetisch identischer Polypen wachsen, können somatische Mutationen, die in einem Korallenpolypen entstehen, der Umwelt ausgesetzt und auf ihren Nutzen hin untersucht werden, ohne notwendigerweise die gesamte Kolonie zu beeinträchtigen. Daher können Zellen mit potenziell schädlichen Mutationen sterben und Zellen mit potenziell vorteilhaften Mutationen können florieren und sich ausbreiten, während die Korallenkolonie weiterwächst. Wenn diese Mutationen dann an die Nachkommen weitergegeben werden können – wie wir jetzt gezeigt haben – bedeutet dies, dass die Korallen ein zusätzliches Werkzeug haben, das ihre Anpassung an den Klimawandel beschleunigen könnte“ (Penn State 2022).

Spätestens hier bricht die Weismann-Schranke zusammen: Die Vererbung von somatischen Mutationen ist Lamarck'sche Evolution, und keine neodarwinistische Evolution.

Eine hässliche Tatsache oder schöne Wissenschaft?

Es war Thomas Henry Huxley, ein überzeugter Verfechter der Darwin‘schen Thesen, der vor über 100 Jahren schrieb: „Die große Tragödie der Wissenschaft – die Erschlagung einer schönen Hypothese durch eine hässliche Tatsache.“ Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Fakten oder Beobachtungen von Naturprozessen niemals hässlich sind. Naturwissenschaftliche Befunde, die nicht in das herrschende Paradigma passen, sind ein wichtiger Faktor, der wissenschaftliche Erkenntnisse vorantreibt. Diese neue Erkenntnis bei den Korallen ist eine solche „hässliche Tatsache“: Sie zeigt uns, dass man der Wissenschaft immer damit rechnen muss, dass bisher gesicherte Theorien nicht immer von Dauer sind, sondern nur vorläufige Gültigkeit haben. Ob Lamarck´sche Mechanismen bei Anpassungsprozessen in anderen Organismen eine große Rolle spielen oder spielten, wird dank dieser „hässlichen Tatsache“ nun Gegenstand von Forschung und Diskussion sein. 

Quellen

Davison JA (1984) Semi-meiosis as an evolutionary mechanism. J. theor. Biol. 111, 725–735. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0022519384802647

Kuntz KLV et al. (2022) Inheritance of somatic mutations by animal offspring. Sci. Adv. 8:35; doi:10.1126/sciadv.abn0707

Lacal I & Ventura R (2018) Epigenetic Inheritance: Concepts, Mechanisms and Perspectives. Front. Mol. Neurosci. 28, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnmol.2018.00292/full

Miryeganeh M & Saze H (2020) Epigenetic inheritance and plant evolution.  Popul. Ecol. 62, 17–27. https://esj-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/1438-390X.12018

Penn State (2022) Corals pass mutations acquired during their lifetimes to offspring. Science Daily, https://www.sciencedaily.com/releases/2022/08/220831152728.htm

Triantaphyllopoulos KA, Ikonomopoulos J & Bannister AJ (2016) Epigenetics and inheritance of phenotype variation in livestock.  Epigenetics & Chromatin 9:31. https://epigeneticsandchromatin.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13072-016-0081-5

Autor dieser News: Peter Borger

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