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22.04.21  Das Ausschalten von „Junk-DNA“ macht aus Stammzellen Neuronen

Ein großer Teil des Genoms codiert nicht für Proteine und enthält außerdem viele Wiederholungen. Daher wurde vielfach angenommen, dass es sich um funktionslose Sequenzen handelt. Warum aber sollte ein evolutionärer Prozess, bei dem nutzloser Ballast nur energetisch nachteilig wirkt, solche Sequenzen erhalten? Eine neue Studie zeigt nun, dass solcher vermeintlicher „Ballast“ den Zellen hilft, sich richtig zu entwickeln.

Ein großer Teil des Erbguts (Genom) besteht aus dem, was Wissenschaftler heute transponierbare und transponierte Elemente (kurz: TE) nennen, die früher als „Transposons“ oder „springende Gene“ bekannt waren. Die komplexesten TE sind endogene Retroviren (ERV) und die so genannten „long interspersed nuclear elements“ (LINE). Zusammen machen sie etwa 25% des Genoms des Menschen aus. Die meisten Biologen interpretieren diese genetischen Elemente als Überbleibsel von Virusinfektionen, die sich im Verlauf der Stammesgeschichte ereignet haben, obwohl ihnen, ähnlich wie proteincodierenden Genen, immer mehr Funktionen zugeschrieben werden. Eine wachsende Zahl Publikationen beschreibt diese Elemente als wichtige strukturelle und regulatorische Elemente des Genoms. Aktuelle Studien zeigten, dass LINE und ERV an der menschlichen Embryonalentwicklung und der interzellulären Kommunikation im Nervensystem beteiligt sind. Und überwiegend als lange nicht-codierende RNAs haben sie Aufgaben als DNA-regulatorische Elemente (Terborg 2018).

In einer kürzlich veröffentlichten Studie zeigen Forscher nun, wie eine Klasse von ERV (bekannt als HERV-K) Stammzellen veranlassen, sich in Neuronen umzuwandeln (Wang et al. 2020).

Für jede Zelle im Körper gibt es einen Zeitpunkt, an dem entschieden wird, welcher Zelltyp sie für den Rest ihres Lebens sein wird. Dies wird als Zelldifferenzierung bezeichnet. Eine von mehreren hundert unterschiedlichen differenzierten Zellen im menschlichen Körper sind Neuronen, die Zellen, aus denen das Nervensystem besteht. Forscher berichteten nun, dass die HERV-K-Gene, die früher als „Junk-DNA“ betrachtet wurden, eine sehr wichtige Rolle in diesem Prozess übernehmen (Wang et al. 2020). Sie beschreiben eine Reihe von Experimenten, die zeigten, wie einige Gene des menschlichen endogenen Retrovirus (HERV-K), die auf den Chromosomen 12 und 19 vorhanden sind, helfen können, die Differenzierung (oder Reifung) menschlicher Stammzellen in die Billionen von Neuronen zu steuern, die in unserem Nervensystem miteinander interagieren.

Die Experimente wurden von Forschern in einem Labor unter der Leitung von Avindra Nath, klinischer Direktor am NIH's National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS), durchgeführt. Zuvor hatten Forscher im Labor von Nath gezeigt, dass die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine schwere degenerative, tödlich verlaufenden Nervenkrankheit, mit der Aktivierung von HERV-K verbunden ist. Daher ist es wichtig, die Aktivität dieser genetischen Elemente in voll ausdifferenzierten Zellen zu unterdrücken. Aber in pluripotenten Stammzellen, d. h. Zellen, die zu jedem möglichen Zelltyp werden können, ist es genau umgekehrt. In ihrer neuen Studie zeigte das Team um Nath, dass die Deaktivierung des HERV-K die Stammzellen dazu bringt, zu Neuronen zu werden.

Die Forscher führten ihre Experimente an Blutzellen durch, die sie gesunden Freiwilligen am NIH-Klinikum entnommen hatten und die sie in sog. „induzierte pluripotente Stammzellen“ verwandelten. Im Labor kann ein pluripotenter Zellzustand durch die Yamanaka-Methode induziert werden, bei der ein „Cocktail“ von vier Genen (c-Myc, Klf-4, Oct-4 und Sox-2) verwendet wird. Überraschenderweise stellten sie fest, dass die Oberflächen der Stammzellen mit hohen Mengen an HERV-K, Subtyp HML-2, einem Hüllprotein, ausgekleidet waren, das auch bestimmte Viren häufig verwenden, um sich an Zellen anzuheften und diese zu infizieren. Diese Proteine verschwanden nach und nach, als den Zellen zweimal nacheinander das erwähnte Gen-„Cocktail“ verabreicht wurde. Die erste Verabreichung versetzte die Zellen in einen Zwischenzustand, den Zustand neuronaler Stammzellen, während die zweite die Zellen dazu brachte, schließlich zu Neuronen zu werden. Die Forscher beschleunigten diesen Prozess, indem sie die HERV-K-Gene oder die HML-2-Gene in den Stammzellen ausschalteten oder sie mit neutralisierenden Antikörpern gegen das HML-2-Protein behandelten. Im Gegensatz dazu verzögerten sie die neuronale Differenzierung, indem sie die Zellen künstlich mit den HML-2-Genen anreicherten.

Schließlich entdeckte das Team, dass Interaktionen auf den Stammzelloberflächen zwischen HML-2 und einem anderen Immunzellprotein namens CD98HC die Differenzierung einschränken können, indem sie interne Signalkette auslösen, von denen bekannt ist, dass sie das Zellwachstum und die Tumorbildung kontrollieren. Für die Zukunft plant das Team zu erforschen, wie HERV-K-Gene die Verdrahtung eines Nervensystems gestalten können. Wir können weitere unerwartete Funktionen für diese Elemente erwarten, die sich als Regulatoren der Zelldifferenzierung und -reifung erweisen. Dass sie die Überreste uralter Viren sind, ist evolutionäres „Storytelling“. Vielmehr könnten die heutigen Viren ihren Ursprung in diesen genetischen Elementen haben. Diese Forschungen geben auch Einblicke in die fein abgestimmte Wechselwirkung von Genen bei der Differenzierung und lassen erahnen, wie welches Potenzial an Fehlfunktionen denkbar ist; ein Wunder, dass die Entwicklung typischerweise korrekt verläuft!

Literatur

Terborg P (2018) ERVs and LINEs – along novel lines of thinking. J. Creation 32, 8–11.

Wang T et al. (2020) Regulation of stem cell function and neuronal differentiation by HERV-K via mTOR pathway. Proc. Natl. Acad. Sci. 117, 17842–17853.

Autor dieser News: Peter Borger

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