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05.12.12  Wieviel Evolution ist durch Kooption möglich?

Im „Zeitalter“ von Evo-Devo (evolutionäre Entwicklungsbiologie) gilt für den evolutionären Wandel teilweise ein gegenüber dem Neodarwinismus neues Paradigma: Evolution erfolgt nicht nur durch Entstehung neuer Gene, sondern vor allem durch Änderungen der Nutzung und zunehmende Mehrfachnutzung vorhandener Gene. Man spricht in solchen Fällen von Kooptionen. Dies ist dadurch möglich, dass Änderungen in der Gen-Regulation erfolgen. Allerdings sind Vorgänge einer Kooption weitgehend hypothetisch. Eine Kooption konnte kürzlich durch eine ausgefeilte Studie wahrscheinlich gemacht werden (Rebeiz et al. 2011). Die Entstehung einer evolutionären Neuheit wird damit aber nicht gezeigt.

Gene an sich sind völlig inaktiv. Ihre Information kann nur genutzt werden, wenn aufgrund von Signalen eine Regulationskaskade ausgelöst wird, an deren Ende das Ablesen der Information des Gens steht (Genexpression). Unmittelbar vor dem Gen liegt der Promotor, an ihm muss die RNA-Polymerase (=Enzym, das die Synthese der messenger-RNA ermöglicht) andocken, damit das Gen abgelesen und die entsprechende mRNA gebildet werden kann (= Transkription (=„Übersetzung“ der DNA in mRNA)), die die Vorlage für die Bildung eines entsprechenden Proteins ist.

Ebenfalls zur Gen-Regulation tragen sogenannte cis-Elemente bei. Dabei handelt es sich um kurze DNA-Bereiche, an denen (i. d. R. mehrere) Transkriptionsfaktoren (=Proteine, die für den Start der Tätigkeit der RNA-Polymerase bei der Transkription von Bedeutung sind) binden können, was entweder zur Verstärkung oder Verringerung der Polymerase-Aktivität und damit der Transkription führt. Ist die Wirkung verstärkend, werden sie als Enhancer bezeichnet. Cis-Elemente liegen meist vor dem Promotor, können aber auch weiter entfernt (sogar auf einem anderen Chromosom) oder im Gen selbst liegen.

Vor diesem Hintergrund der Gen-Regulation kann Evolution nicht nur dadurch ablaufen, dass Gene selbst verändert werden, sondern auch durch Änderungen der Enhancer, also der DNA-Bereiche und derjenigen Proteine, die bei der Regulation der Genaktivität eine Rolle spielen. Änderungen in diesen Bereichen können dazu führen, dass Gene in anderer Weise als zuvor genutzt werden, das heißt, das Expressionsmuster (zeitlich oder Gewebe-spezifisch) der Gene ändert sich (zu "Genexpression" s. o.). Über ein interessantes Beispiel einer solchen Änderung berichten Rebeiz et al. (2011). Ihnen gelang möglicherweise der Nachweis der Entstehung eines neuen Enhancers durch Kooption, d. h. ein ursprünglich vorhandener Enhancer wurde bei einem neuen Gen in veränderter Form neu genutzt.

Vier prinzipielle Möglichkeiten der Veränderung der Gen-Expression werden in der Literatur diskutiert (instruktive Abbildung unter http://ittakes30.wordpress.com/2011/05/31/something-new-under-the-sun).

  • Transposition: Ein bereits existierender Enhancer gelangt an eine neue Stelle im Erbgut. Das führt zu einer neuen Ausprägung der Expression.
  • Promotor-Switching: Es treten im Enhancer Änderungen in der Enhancer-Promotor-Spezifität auf, die dazu führen, dass ein anderer Promotor aktiviert wird.
  • Kooption: Ein bereits existierendes genetisches Element wird in einem neuen Funktionszusammenhang verwendet. Das kann ein Gen für ein strukturelles Protein sein oder das können regulatorische Abschnitte sein, die neu verwendet werden
  • Neuentstehung: Bisher nicht-funktionale DNA wird durch Mutationen zu einem Enhancer.

Rebeiz et al. (2011) konnten in ihren Untersuchungen die Kooption eines bereits vorhandenen Enhancers für eine neue Regulation der Genexpression in einem neuen Organ plausibel machen. Sie untersuchten 20 Gene einer Gruppe nah verwandter Taufliegen-Arten (Drosophila), um in jüngerer Zeit evolvierte neue Gen-Expressionsmuster zu untersuchen. Die Expression dieser Gene wurde in mehreren Larvenstadien der verschiedenen Drosophila-Arten ermittelt, und die Forscher entdeckten viele Unterschiede, die aber meistens geringfügig waren, z. B. Änderungen im zeitlichen Verlauf oder in der Größe der Körperregion, in der das Gen exprimiert wurde, oder solche, die auf Verlust zurückzuführen waren.

Ein Gen in der Art D. santomea aber hatte ein besonderes Expressionsmuster, das in den anderen Arten nicht vorkam. Es handelte sich um das Gen Neprilysin-1 (Nep1), das allgemein in den Flügeln, Beinen und im Zentralnervensystem aktiv ist. Nep1 kodiert eine extrazelluläre Metalloproteinase1 (Rebeiz et al. 2011, 10038). Bei D. santomea wird es, im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Arten, zusätzlich auch in den sich entwickelnden Nervenzellen des entstehenden Sehlappens exprimiert. Die genaue Funktion von Nep1 in dem neuen Gewebe ist leider nicht bekannt. Die Untersuchung der Cis-Region von Nep1 offenbarte eine neue Enhancer-Aktivität in einer Region, die einige Mutationen angesammelt hatte. Dieser (neue) Enhancer überlappt mit anderen (bestehenden) Enhancer-Aktivitäten, von denen die neue Aktivität vermutlich kooptiert wurde.2 Weitere Experimente konnten ausschließen, dass es sich um ein altes Expressionsmuster handelt, das lediglich bei den anderen Arten verlorengegangen ist.

Die detaillierten Untersuchungen von Rebeiz et al. (2011) zeigen kurz zusammengefasst: Eine Änderung eines Enhancers des Gens Nep1 führt dazu, dass dieses Gen zusätzlich auch im Sehlappen exprimiert wird. Der zuvor schon vorhandene Enhancer bekommt somit eine weitere Funktion (Kooption). Diese wird in der weiteren Folge durch vier Mutationen optimiert.

Eine latente Aktivität war schon da. Die Autoren verglichen die Sequenzen des Enhancers von Nep-1 von D. santomea mit den Sequenzen  nahe verwandter Drosophila-Arten, um die Sequenz des letzten gemeinsamen Vorfahren von D. santomea und D. yakuba zu rekonstruieren. Sie fanden heraus, dass der Enhancer des gemeinsamen Vorfahren eine signifikante Aktivität im Sehlappen besessen haben muss (etwa 40 % des Levels der Aktivität in D. santomea) und es auch bei entfernter verwandten Arten Spuren einer Aktivität gibt. Es liegt also bereits ein verborgenes Potential vor, das bei den meisten Drosophila-Arten latent bleibt, während es beim gemeinsamen Vorfahren von D. santomea und D. yakuba durch Mutationen zu einer moderaten Aktivität kam, die durch vier weitere Mutationen bei D. santomea zu einer Verstärkung der Expression führte. Bei D. yakuba führten weitere Mutationen zum Stilllegen der Expression.

Belegen die Befunde die Entstehung einer evolutionären Neuheit? Die Autoren versprechen sich von ihren Befunden Einblicke in die Entstehung von evolutionären Neuheiten (Rebeiz et al. 2001, 10041).3 Sie konnten zeigen, was auf molekularer Ebene im evolutionären Kontext passieren kann und haben dabei eine ausgezeichnete Arbeit abgeliefert, in der viele Aspekte berücksichtigt wurden, um die Schlussfolgerungen abzusichern.4 Aus ihren Schilderungen geht aber nicht hervor, ob die nachgewiesene Kooption eines Enhancers Auswirkungen auf den Phänotyp (=Erscheinungsbild) hat (in diesem Fall bei der Sehfähigkeit, da es um eine Änderung der Genexpression im Sehlappen handelt). Das betreffende Gen Nep1 kodiert eine extrazelluläre Metalloproteinase; das ist nicht neu. Neu ist, dass Nep1 auch im Sehlappen aktiv ist. Aber wie ist diese Aktivität einzuschätzen, welche Bedeutung hat sie? Die Kooption scheint nicht mit einer neuen Fähigkeit der Taufliegen einherzugehen. Es kann sich ohnehin bei einem einzigen Gen nur um einen (kleinen) Beitrag im komplexen System der Sehfunktion handeln. Möglicherweise hat die Kooption des Enhancers gar keine phänotypischen Auswirkungen.

Ob man von einer evolutionären Neuheit sprechen kann, hängt natürlich auch davon ab, was man unter „Neuheit“ (novelty) verstehen soll. Eine allgemein anerkannte Definition liegt nicht vor. Der Begriff scheint teilweise inflationär für alle möglichen Veränderungen verwendet zu werden. In dem von Rebeiz et al. untersuchten Fall bedeutet „Neuheit“ ein neues Expressionsmuster, das durch einige geringfügige, vielleicht vorher schon angelegte Änderungen zustande kam. Man kann das als „Neuheit“ bezeichnen, doch sind die dahinterstehenden Änderungen sehr geringfügig und erlauben keine weitergehenden Schlussfolgerungen.

Neue Genexpression oder latente Anlage? Vom evolutionsbiologischen Standpunkt aus könnte man dann in gewissem Sinne von einem Durchbruch sprechen, wenn eine Kooption eines Enhancers wirklich nachgewiesen wurde. Wie eingangs erwähnt werden Kooptionen theoretisch gefordert, aber ein Nachweis stattgefundener Kooptionen fehlt weitgehend. Die Wissenschaftler haben gezeigt, dass vier Mutationen ausreichen, um eine Genexpression an einem neuen Ort hochzuregulieren (daher handelt es sich um eine Kooption, s. o.). Allerdings diskutieren sie auch, dass diese Genexpression zuvor schon latent im Vorfahren angelegt war und auf geringem Level stattfand (s. o.), sie ist also nicht wirklich neu.5 Kann also wirklich von einer echten Kooption gesprochen werden?

Literatur

Rebeiz M, Jikomes N, Kassner VA & Carroll SB (2011) Evolutionary origin of a novel gene expression pattern through co-option of the latent activities of existing regulatory sequences. Proc. Natl. Scad. Sci. 108, 10036-10043 (doi: 10.1073/pnas.1105937108

Anmerkungen

1 Metalloproteinasen sind Enzyme, die die Peptidbindungen eines Proteins spalten können, wobei ein Molekül Wasser verbraucht wird und das Wassermolekül von einem oder zwei Metallkationen in Position gehalten wird. (nach Wikipedia)

2 „We traced the evolutionary history of the gain of Nep1 gene expression in the laminar neuroblasts of the optic lobe and found that the newly evolved Nep1 optic lobe enhancer was embedded within a region containing several enhancers that were active in other tissues. Furthermore, we demonstrated that the optic lobe enhancer included sequences required for the activity of other enhancers, which indicated that the enhancer activity evolved by co-option of preexisting, long-conserved, regulatory sequences. Finally, we revealed that mutations at four sites elevated the latent low optic lobe activity of the ancestral regulatory sequence to the present-day high level in D. santomea“ (S. 10041).

3 „These results highlight the ease with which evolution may “tinker” with regulatory sequences to generate novelty…“ (S. 10041)

4 Unter anderem die Untersuchung mehrerer Entwicklungsstadien, um auszuschließen, dass man Genexpressionen nur übersehen hat, weil man zur falschen Zeit geguckt hat, und eine Reihe von Tests, um alternative Erklärungsmöglichkeiten auszuschließen.

5 „We suggest that the novel optic lobe enhancer evolved by exploiting the cryptic activity of extant regulatory sequences, and this may reflect a general mechanism whereby new enhancers evolve.“

Autor dieser News: Reinhard Junker

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