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27.09.11  Unser Großhirn – „out of the blue“?

Ringelwürmer (Annelida) sind nicht gerade als Intelligenzbestien verschrien. Ihr Gehirn ist relativ einfach aufgebaut, aber gerade deshalb gut geeignet als Modell zur molekularen Erforschung von Gehirnentwicklung und -funktion. Neue Genexpressions (= Ablesen der Geninformation)-Analysen am Gehirn von Platynereis dumerilii, einem im Meer lebenden Borstenwurm, haben deutliche Gemeinsamkeiten mit der Großhirnrinde der Wirbeltiere belegt, dem komplexesten Organ in der belebten Welt (Tomer et al. 2010). Die Autoren der Studie schließen daraus: „Die Evolutionsgeschichte unseres Großhirns muss neu geschrieben werden.“

Eine auffällige paarige Struktur im Annelidenhirn, wie auch im Zentralhirn vieler Insekten, ist der sogenannte Pilzkörper. Seine pilzförmige Struktur bildet ein Zentrum mit dicht gepackten Neuronen (Nervenzellen), die tausende bis zu mehreren hunderttausend parallel laufende Nervenfortsätze entsenden. Der Pilzkörper ist vor allem für die Verarbeitung von Geruchsinformationen zuständig, mischt aber auch bei Lern- und Gedächtnisleistungen mit. Aktuell wird z. B. an der Fruchtfliege erforscht, wie Gedächtnis und Lernen molekular im Pilzkörper funktioniert (Davis 2011). Es gibt auch Hinweise, dass der Pilzkörper eine Rolle beim Ausfiltern wichtiger gegenüber weniger wichtigen Umgebungsinformationen spielt (Farris 2011).

Es war schon länger bekannt, dass es strukturelle, anatomische und funktionelle Ähnlichkeiten des Pilzkörpers mit dem Cortex (oder Pallium, Großhirnrinde) der Wirbeltiere gibt, also mit dem Teil unseres Gehirns, das für komplexe Leistungen zuständig ist, wie zum Beispiel dem Ersinnen von Experimenten zur Erforschung des Gehirns. Weil Ringelwürmer und Wirbeltiere stammesgeschichtlich sehr weit entfernt stehen (Protostomia vs. Deuterostomia, Urmünder vs. Neumünder), wurden diese Ähnlichkeiten aber bisher nicht als Homologien (Ähnlichkeit durch Verwandtschaft) gedeutet, sondern als konvergent erworben interpretiert (Ähnlichkeiten, die durch funktionelle Notwendigkeit in nicht näher verwandten Gruppen erzwungen wurden). Nachdem nun aber die oben erwähnten Genexpressions (=Ablesen der Geninformation)-Experimente neben einigen Unterschieden auch viele Parallelen im Muster aktiver Gene im Pilzkörper zu dem entsprechenden Muster im Wirbeltier-Cortex aufdeckten, schließen die Autoren, dass diese Ähnlichkeiten zu komplex und zahlreich sind, um unabhängig durch funktionelle Notwendigkeit, also konvergent, erworben zu sein. Stattdessen folgern sie, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Ringelwürmern und Wirbeltieren schon die entsprechenden molekularen Gemeinsamkeiten trug, der Vorläufer des Großhirns also schon sehr früh entstanden sei, bevor sich die Linien trennten, die zu den Ringelwürmern bzw. zu den Wirbeltieren führten.

Die Arbeit ist methodisch beeindruckend, die Autoren entwickelten ein Protokoll, das es ermöglicht, Genexpressions-Profile mit zellulärer Auflösung für den gesamten Organismus der Anneliden-Larve durchzuführen. Aufschlussreich ist allerdings auch die Methodik in Bezug auf stammesgeschichtliche Schlussfolgerungen. Im vorliegenden Fall hat sich offensichtlich durch die neuen Genexpressions-Befunde die Anzahl an Ähnlichkeiten von Großhirnrinde zu Pilzkörper gegenüber der Zahl der Unterschiede so erhöht, dass sie einen (keineswegs vordefinierten) „Grenzwert für Plausibilität“ überschritt, so dass Merkmale, die zuvor als vielfache Konvergenzen gedeutet wurden, nun zu Homologien umdefiniert werden. Eigenschaften die bisher als durch funktionelle Notwendigkeit erworben galten, sind nun Folge gemeinsamer Abstammung mit der Konsequenz: die Evolutionsgeschichte des Großhirns muss umgeschrieben werden.

Etwas erstaunlich ist, dass offenbar die gerade erschlossene neue Einstufung dann selbstbewusst von den Autoren als endgültig angesehen wird: Um zu einer möglichen Rekonstruktion des Gehirns des erwarteten letzten gemeinsamen Vorfahren zu gelangen, könne man das Gehirn von Krebstieren oder Mollusken (Protostomia) oder dem Lanzettfischchen (Deuterostomia) untersuchen, so die Autoren im Ausblick ihres Artikels. Bei diesen Organismen sind noch keine deutlichen Pilzkörper-Morphologien entdeckt worden und im angenommenen Stammbaum stehen sie zwischen Ringelwürmern und Wirbeltieren. Sollten Genexpressions-Untersuchungen auf ähnliche Muster wie bei Ringelwürmern stoßen, bestätige dies, dass ihre Gehirne dem angenommen einfacheren Gehirn des letzten gemeinsamen Vorfahren ähneln. Wenn dagegen die Muster nicht gefunden würden, stelle das die neue Gehirn-Systematik allerdings auch nicht infrage: Dann hätten die untersuchten Gruppen vorherige Komplexität eben sekundär wieder verloren …

Wie vor kurzem für Archaeopteryx beschrieben (Fällt eine Ikone vom Sockel?) zeigt auch dieses Beispiel, dass Ähnlichkeiten von Merkmalen an sich keine verlässlichen Verwandtschaftsanzeiger sein können. Es kann nicht im Voraus definiert werden, welche Qualität oder Quantität eines ähnlichen Merkmals den Erwerb durch gemeinsame Vorfahren wahrscheinlicher macht als einen unabhängigen, konvergenten Erwerb. Ob Merkmale als Homologien oder Konvergenzen gedeutet werden hängt immer vom vorher erwarteten bzw. bislang konstruierten Stammbaum ab. Dieses Vorgehen führt zu unauflösbaren Zirkelschlüssen. Insbesondere wenn, wie wiederholt berichtet, komplexe Merkmale mosaikartig gleichzeitig bei einfachen und höheren Lebewesen auftauchen, führt dies oft zu neuen, wiederum auch nicht unproblematischen evolutionären Einordnungen. Meist werden sie als Konvergenzen gedeutet, im hier beschriebenen Artikel als Homologien. Das führt dazu, dass Arendt spekuliert: „… we learn that it (der Vorläufer des Palliums) came ‘out of the blue’ – as an adaptation to early marine life in Precambrian oceans“ (http://insciences.org/article.php?article_id=9476).

Im schöpfungstheoretischen Rahmen können entsprechende Mosaik-Befunde schlüssig im Sinne eines der geschaffenen Natur zugrunde liegenden „Baukastensystems“ gedeutet werden, so dass sich spekulative Ausflüge ins Blaue erübrigen.

Literatur

Davis RL (2011)  Traces of Drosophila memory. Neuron 70, 8-19

Farris S (2011) Locusts Provide Clues to Insect Mushroom Body Function. Brain Behav Evol 77, 3-4, doi: 10.1159/000322939

Jenett et al. (2006) The Virtual Insect Brain protocol: creating and comparing standardized neuroanatomy. BMC Bioinformatics 7, 544, doi: 10.1186/1471-2105-7-544

Tomer R, Denes A, Tessmar-Raible K & Arendt D (2010) Profiling by Image Registration Reveals Common Origin of Annelid Mushroom Bodies and Vertebrate Pallium. Cell 142, 800-809.

Autor dieser News: Hans-Bertram Braun

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