20.05.11 Buckelzirpen – wie entstehen spektakuläre Körperanhänge?
Zikaden sind Insekten, deren Mundwerkzeuge zum Anstechen und Aufsaugen von Pflanzensäften geeignet ist. Eine Gruppe von Zikaden bildet aus dem Halsschild z. T. skurrile Strukturen, die über den Rücken verlängert sind. Wie werden diese Strukturen gebildet? Wozu dienen sie? Warum gibt es das nur bei Buckelzirpen? Viele dieser Fragen sind bisher ohne befriedigende Antwort. Zur ersten Frage haben Wissenschaftler jetzt erste Teilantworten gefunden. Ihre Evolution bleibt hypothetisch, auch wenn in der Presse ein anderer Eindruck erweckt wird.
Für die taxonomische Einteilung von Insekten in Einheiten höherer Ordnung orientieren sich die Entomologen häufig am Verlust oder an der Reduktion von Körperanhängen (wie z.B. Beinen oder Flügeln). Dabei liegen den Bezeichnungen Verlust oder Reduktion vergleichende Betrachtungen zugrunde, die evolutionstheoretisch geprägt sein können. Neue, zusätzliche Körpermerkmale werden sehr selten angenommen, und die Bedingungen unter denen sie entstehen, sind noch weitgehend unverstanden.
Ein Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Nicolas Gompel hat nun eine Untersuchung veröffentlicht (Prud’homme et al. 2011), in der sie die Entstehung der teilweise bizarren Halsschilde1 (Pronotum, engl. helmet; manche haben die Form eines Helms) von Buckelzirpen studieren. Buckelzirpen (Membracidae) sind eine Insektenfamilie aus der Ordnung der Schnabelkerfe (Hemiptera) und der Unterordnung der Rundkopfzikaden (Cicadomorpha); sie stechen Pflanzen an und ernähren sich von den zuckerhaltigen Pflanzensäften (Phloem-Sauger).
Der Halsschild wird am ersten Brustsegment gebildet und von Prud’homme et al. als homolog2 zu den dort prinzipiell angelegten Flügeln interpretiert. Diese Strukturen sind einzigartig in der Geschichte der Insekten und charakteristisch für alle Buckelzirpen. Bisherige Bearbeiter haben die Körperanhänge ganz unterschiedlich interpretiert und es gab darüber kontroverse Diskussionen. Von einfachen Auswüchsen unterscheiden sich die Halsschilde als Körperanhänge dadurch, dass sie beweglich mit dem Körper verknüpft sind, so wie die Flügel am zweiten und dritten Brustsegment. Darin sind die Halsschilde von Auswüchsen bei anderen Insekten, z. B. den „Horn“-artigen Strukturen bei Käfern unterschieden.
Gompel und sein Team gingen nun der Frage nach, wie solche Körperanhänge auf dem Rücken am ersten Brustsegment im Laufe der Evolution entstanden sein könnten: entweder komplett neu (de novo) oder unter Verwendung und Modifikation eines bestehenden Entwicklungsprogramms?
Dazu untersuchten sie verschiedene Larvenstadien von Buckelzirpen. Auf den ersten Blick erscheinen die Halsschilde nicht als paarig angelegte Struktur (wie z. B. Flügel), sondern als eine einheitliche Struktur, die über dem Rücken verlängert ist. Durch Untersuchungen am ersten Larvenstadium von Buckelzirpen konnten die Autoren jedoch zeigen, dass die Körperanhänge zunächst doch paarig angelegt und später auf dem Rücken fusioniert werden. Als Körperanhänge der Brustsegmente (T2 und T3), die zum Rücken hin ausgebildet werden, sind bei Insekten nur Flügel bekannt. Vergleichende Untersuchungen von Halsschild und Flügel in verschiedenen Larvenstadien zeigen, dass das Drehgelenk und die Aufhängung des Halsschilds dem der Flügel sehr ähnlich ist, und beide Strukturen sind durch ein Netzwerk von Adern charakterisiert. Aufgrund dieser Beobachtungen interpretieren Prud’homme et al. beide Strukturen als homolog. Wenn Halsschild und Flügel homolog sind, dann müssten nach der Erwartung der Autoren beide Strukturen während Entwicklung durch dieselben genetischen Programme gesteuert werden. Die Aktivität eines Transkriptionsfaktors (Nubbin) und zweier weiterer Gene (Distal-less [Dll] und homothorax [hth]) lassen sich tatsächlich sowohl in den Flügelanlagen als auch im sich entwickelnden Halsschild nachweisen. Die Entwicklung beider Anlagen unterliegt also mindestens teilweise derselben genetischen Steuerung.
Alle heute bekannten geflügelten Insekten bilden ausschließlich an den Brustsegmenten 2 und 3 (T2 und T3) entsprechende Anhänge, aber nicht an T1. Es ist bekannt, dass das genetische Programm für die Anlage von Flügeln unterdrückt werden kann; es wird schon länger vermutet, dass das beim 1. Brustsegment der Fall ist. Im Fossilbefund gibt es Hinweise darauf, dass es auch Insekten gegeben hat, die in allen drei Brustsegmenten (T1, T2 und T3) Flügel oder flügelähnliche Strukturen ausgebildet hatten (Grimaldi & Engel 2005) und vermutlich erst im Lauf der Zeit flügelartige Anhänge nur an T2 und T3 beschränkt blieben. Prud’homme et al. vermuten daher, dass auch im Fall der Buckelzirpen diejenigen Regulationsgene, die die Ausbildung von Flügeln unterdrücken können, an der veränderten Ausbildung von Flügeln bei Insekten und eben auch bei der Bildung der Halsschilde beteiligt sind.
Die Entstehung der Formenvielfalt der Halsschilde bei den Buckelzirpen ist allerdings nach wie vor unverstanden; dazu müsste noch eine Vielzahl weiterer genetischer Faktoren ins Spiel kommen.
Für die interessanten Befunde, die Prud’homme et al. (2011) dokumentieren, scheint allerdings beim derzeitigen Stand der Erkenntnisse die Bemerkung von der „Entstehung von Neuheit“, mit der Moczek (2011) seinen Kommentar betitelt („The origins of novelty“) voreilig und nicht durch die Befunde gedeckt.3 Die bisher bekannten Zusammenhänge sprechen eher dafür, dass ein Arsenal an genetischen Möglichkeiten erstaunlich variabel eingesetzt wird. Hier stellt sich die Frage, wo und wie die Entscheidungen fallen, welche Kombination eingesetzt wird. Bei der Ausbildung der Halsschilder von Buckelzirpen erstaunt zwar die phantastische Formenvielfalt, aber für die genetische Steuerung von deren Entwicklung scheint eigentlich alles vorhanden zu sein und es ist eher erstaunlich, dass solch exotische Anhänge unter den Insekten ausschließlich bei den Buckelzirpen auftreten. Wenn in zukünftigen Untersuchungen die genetischen Steuerelemente, die während der Ontogenese wirksam sind, beschrieben und plausibel erklärt werden, dann ist damit immer noch nicht die Art und Weise von deren (Neu-)Verwendung im Laufe der hypothetischen Stammesgeschichte verstanden. Es stellen sich Fragen nach den Umständen und den Instanzen, die die Faktoren in unterschiedlichen Zusammenhängen zur Anwendung bringen.
Literatur
Grimaldi D & Engel MS (2005) Evolution of Insects. Cambridge University Press.
Prud’homme B, Minervino C, Hocine M, Cande JD, Aouane A, Dufour HD, Kassner VA & Gompel N (2011) Body plan innovation in treehoppers through the evolution of an extra wing-like appendage. Nature 473, 83-86.
Moczek AP (2011) The origins of novelty. Nature 473, 34-35.
Anmerkungen
1 Beispiele von exotischen Buckelzirpen hat das Magazin GEO veröffentlicht und im Internet zugänglich gemacht: http://www.geo.de/GEO/natur/tierwelt/5218.html; weitere sind unter folgender Adresse zu finden: http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-67707.html (Stand: 18. 5. 2011), beide Fotostrecken sind sehr sehenswert!
2 Homologie: Gemeinsamkeit aufgrund (vermuteten) gemeinsamen evolutionären Ursprungs aus Vorfahren.
3 In der Tagespresse wurde die hier referierte Arbeit ebenfalls besprochen, allerdings suggerieren die Titelformulierungen viel mehr als inhaltlich geboten wird und auch die angeführten evolutionären Erklärungen erscheinen oberflächlich und sehr optimistisch. Unter der Adresse http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,761084,00.html (Stand: 18. 5. 2011) wurde über „Darth Vader der Insektenwelt“ berichtet und die Befunde als „eindrucksvoller Beleg für die Macht der Evolution“ interpretiert. In der FAZ Ausgabe vom 11. 5. 2011 war zu lesen: „Wie die Evolution zum Großbildhauer wurde“. Autor dieser News: Harald Binder Informationen über den Autor
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