27.05.10 Fehler im menschlichen Erbgut?
Das menschliche Genom: bewusst geschaffen oder Produkt natürlicher Prozesse – Bemerkungen zu einer Diskussion
Im Zusammenhang mit den Diskussionen um „Intelligent Design“ (ID) wurden in einer Veröffentlichung genetische Ursachen für Krankheitserscheinungen beim Menschen als Argument für eine natürliche ungeplante Entstehung des menschlichen Genoms vorgetragen. Die Publikation hat in Journalen und im Internet Resonanz hervorgerufen. In diesem Beitrag werden Argumente kritisch geprüft und abschließend ein Vorschlag für naturwissenschaftliche Beiträge zur Diskussion um ID unterbreitet.
Die Diskussionen um „Intelligent Design“ (ID) laufen nun bereits seit einigen Jahren und je nachdem, was man der ID-Bewegung zurechnet, auch bereits Jahrzehnte. Dabei können diese Diskussionen als Beispiel dafür gelten, wie schnell ideologische, weltanschauliche Aspekte den Umgang von Naturwissenschaftlern prägen, die unterschiedliche Positionen vertreten. Bei allen Beteiligten kann man häufig feststellen, dass die Argumente der anderen Partei nur selektiv wahrgenommen werden und wenig Interesse besteht, deren Potential zu erfassen. Die Grenzen zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Religion werden oft nicht beachtet und ignoriert, mit der Folge, dass diese Bereiche unsensibel und mit weitreichenden Konsequenzen miteinander vermischt werden.
Ein aktuelles Beispiel liefert die Veröffentlichung des Genetikers John C. Avise über Befunde aus dem menschlichen Genom (=Erbgut), die er als starke Hinweise für natürliche Entstehung (evolutive Prozesse, v. a. ungerichtete, zufällige Änderungen im Genom und der natürlichen Selektion) interpretiert. Die Argumentation von Avise beruht auf der mutmaßlichen Unvollkommenheit des menschlichen Genoms, dessen Mängel und der dadurch verursachten gesundheitlichen Probleme für Menschen. Wenn Avise die Entdeckungen von kausalen Zusammenhängen von angeborenen Krankheitsbildern als aufgeklärte Erfolgsgeschichte der Medizin darstellt, die traditionelle religiöse Erklärungen ersetzten und so medizinischen Fortschritt ermöglichten, dann erscheint dies ziemlich einseitig. Er weiß, dass in der Medizingeschichte auch Personen beteiligt waren, die die Zusammenhänge zwischen mikrobiellen Infektionen oder molekularbiologischen Besonderheiten und entsprechenden Krankheitsbildern erforscht haben und für die das kein Widerspruch dazu war, dass sie an einen Gott glaubten, der Himmel und Erde geschaffen hat (z. B. Francis Collins, Leiter des Humangenomprojekts, derzeit Direktor des NIH, USA). Zudem bedeuten wachsende Einsichten in funktionelle Zusammenhänge (z. B. zwischen Genom und Dispositionen für Krankheiten) noch nicht weitere Erkenntnisse über die Entstehung des menschlichen Erbguts.
Mängel des Erbguts? Avise listet Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem menschlichen Genom auf: Es sind Mutationen in vermutlich allen ca. 24 000 Genen bekannt, die für Proteine codieren und die negative Auswirkungen auf die Entwicklung und Gesundheit des Menschen haben. Er erwähnt weiter die Probleme, die durch das sogenannten Spleißen, also das Zerstückeln und erneute Zusammensetzen von DNA-Abschnitten (Exons und Introns) verursacht werden. Außerdem führt er komplizierte Mechanismen der Regulation von Genen an, mitochondriale DNA, Genduplikation und Pseudogene, mobile DNA Elemente im menschlichen Genom, die beim Auftreten von Fehlern verheerende Auswirkungen für den Menschen haben können.
Avise sieht in der Struktur des menschlichen Genoms und dessen Regulation in manchen Bereichen eine unnötige und überflüssige Komplexität und fehleranfällige Konstellationen. Nach seiner Ansicht handelt es sich dabei um fehlerhaftes Design und dies ist für ihn nicht mit verträglich mit seiner Vorstellung eines Schöpfergottes. Der Autor führt tabellarisch einige Gründe an, warum und wie evolutionäre Veränderungen zu suboptimalen Ergebnissen führen können. Darin sieht er natürliche, evolutionäre Erklärungsversuche denjenigen überlegen, die von einem bewussten Erschaffen ausgehen. Dabei unterschlägt Avise jedoch, dass eigentlich das Zustandekommen des komplexen Systems des menschlichen Genoms zu erklären ist und nicht vor allem die heute darin bekannten Defekte. Mit einem rationalen Verständnis der Entstehungsweise von genetischen Dysfunktionen sind weder das Erbgut des Menschen noch dessen mögliche Entstehung auch nur annähernd erklärt. Wenn Avise schreibt, dass es Spleiß-Prozesse gibt, die auch zu fatalen Schädigungen für die betroffenen Menschen führen können, dann verschweigt er, dass genau diese Vorgänge auch zu einem Phänomen gehören, das wir als „überlappende Gene“ kennen (wenn auch bei weitem noch nicht verstanden haben). Dieses verbreitete Phänomen stellt natürliche Erklärungsversuche einerseits vor große Herausforderungen stellt und legt andererseits den Gedanken an Planung nahe.
Theologie in einen Naturwissenschafts-Journal. Man kann nur darüber spekulieren, was den Autor und auch die Gutachter dazu bewogen hat, in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift (bzw. auf dem vorgängigen A. M. Sackler-Colloquium „Iin the Light of Evolution IV: The Human Condition“) einen Beitrag aufzunehmen, in dem naturwissenschaftliche und theologische Aspekte derart eng (und oft ziemlich undifferenziert) miteinander verwoben sind. So skizziert Avise das Thema „Theodizee“ (die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts der Ungerechtigkeit und des Leids in der Welt) und gibt vor, dass mit einer natürlichen Erklärung der Krankheiten und körperlichen Defekte des Menschen diese Frage sich gar nicht mehr stelle, weil man keinen Schöpfergott mehr dafür verantwortlich machen müsste.
Was den Autor dazu veranlasst, abschließend für eine Verbindung zwischen den etablierten Religionen („mainstream religions“) und Evolutionsforschung („evolution sciences“) und gegen Vorstellungen von einem Schöpfergott („creationism“ und „intelligent design“) zu werben, bleibt sein Geheimnis. Es bleibt aber zu hoffen, dass die oft und mit guten Gründen geforderte methodische Trennung und Unterscheidung zwischen metaphysischen Aussagen und naturwissenschaftlichen Daten und Argumentationen nicht einäugig beurteilt und eingefordert wird.
David Tyler (2010) schreibt in einer Reaktion auf den Artikel von Avise, dass dieser behauptet, dass das menschliche Genom Merkmale aufweise, die auf einen unbewussten (also rein natürlichen) Ursprung hinweisen und dass die bekannten evolutionären Mechanismen diese perfekt erklären könnten. Das hat Avise in seinem Beitrag an keiner Stelle explizit so behauptet und sollte ihm auch nicht unterstellt werden. Richtig bemerkt Tyler aber, dass nicht vor allem die Fehler erklärt werden müssen, sondern das vorhandene komplexe System des menschlichen Genoms, d. h. die Diskussion sollten nicht auf Nebenschauplätzen geführt, sondern auf die relevanten Aspekte fokussiert werden. Ihm ist auch darin Recht zu geben, dass Avise im Blick auf die kritisierte ID-Position nicht naturwissenschaftlich, sondern theologisch argumentiert (nämlich mit seinen Vorstellungen im Zusammenhang der Möglichkeiten und Grenzen eines allmächtigen und gerechten Schöpfergottes).
P. Ball (2010), der den Beitrag von Avise in einer Kolumne von Nature aufnimmt, ist sicher zuzustimmen, wenn er schreibt, dass man – und das sollte für alle an der Diskussion Beteiligten gelten – darauf achten sollte, dass derzeit noch unverstandene und unerklärte Phänomene nicht vorschnell als Argument für die eigene und gegen alternative Positionen interpretiert und verwendet werden sollten. Man könnte sonst wie z. B. im Zusammenhang mit der zunächst so genannten „Junk-DNA“ allzu schnell in Schwierigkeiten geraten und zum unrühmlichen Rückzug gezwungen sein.
Wie kann weiter geforscht werden? Könnte man die hier angesprochenen Befunde aus der Perspektive unterschiedlicher Standpunkte auch methodisch geordnet naturwissenschaftlich weiterführen? Hier soll abschließend ein Vorschlag skizziert werden: im Blick auf menschliche – aber auch andere – Genome erleben wir gegenwärtig eine erstaunliche Dynamik und einen dramatischen Zuwachs an Daten. Naturalistische, bzw. evolutionäre Erklärungsansätze würden erwarten lassen, dass sich die gegenwärtig wahrnehmbare und dokumentierte Komplexität von Genomen, deren Funktion und Regulation durch ungerichtete Prozesse entstanden sind und damit den Eindruck eines „Zusammengebasteltseins“ (tinkering) erwecken. Von einem Standpunkt, der von einer effektiven Art von Schöpfung ausgeht (mit sekundären Zerfallserscheinungen) würde man in den genetischen Systemen bei aller Fehlerhaftigkeit Spuren eines zugrunde liegenden „genialen“ Gesamtkonzeptes erwarten. Wer redlich an einer Diskussion und Klärung unterschiedlicher metaphysischer Positionen und deren Auswirkung in die Naturwissenschaft hinein interessiert ist, findet hier ein reiches Betätigungs- und Forschungsfeld.
Was die redlichen Diskussionen betrifft, so können wir auch heute – wie Avise das (in anderer Absicht) in seinem Beitrag andeutet – von einflussreichen Philosophen (wie beispielsweise Sokrates und Hume) lernen. Sie haben sehr sorgfältig Dialoge konstruiert, in denen sie Vertreter der verschiedenen Schulen und Standpunkte auftreten und mit den jeweils besten Argumenten ins Gespräch kommen ließen. Wer wirklich am Gewinnen neuer Erkenntnisse interessiert ist, findet in diesen historischen Personen nachahmenswerte Beispiele.
Quellen
Avise JC (2010) Footprints of nonsentient design inside the human genome. Proc. Nat. Acad. Sci. USA 107, 8969-8976.
Ball P (2010) What a shoddy piece of work is man. Nature doi:10.1038/news.2010.215
Tyler D (2010) Does the human genome have “serious molecular shortcomings”? http://www.arn.org/blogs/index.php/literature/2010/05/07/
Zum Design-Argument siehe Einführung in „Intelligent-Design“
Zum Theodizee-Problem siehe Das Theodizee-Problem Autor dieser News: Harald Binder Informationen über den Autor
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