Auf der Grundlage dieser und anderer Daten wurden zahlreiche spekulative Ansätze einer Erklärung zur Entstehung bzw. Abwandlung vorhandener anatomischer Strukturen oder von makroevolutiven Sprüngen entworfen (zum Thema „Makroevolution“ siehe Mikro- und Makroevolution). Änderungen der Anzahl, der Anordnung, der Sequenzen oder des regulativen Einflusses von Homeobox-Genen oder der Hox-Komplexe sollen danach größere Umbauten ermöglicht haben. Unter dem Stichwort „Evo-Devo“ (Evo-Devo) wurden an diesen Ansatz einige Hoffnungen geknüpft: Änderungen in Frühstadien der Ontogenese, in denen die Homeobox-Gene von besonderer Bedeutung sind, sollten demnach makroevolutive Prozesse begünstigen.
Experimentelle Befunde bei Mutationen an Homeobox-Genen lassen die geschilderten Szenarien aber sehr fragwürdig erscheinen – noch abgesehen davon, dass die Entstehung der Homeobox-Gene bzw. der Hox-Komplexe und ihre Diversifikation rätselhaft sind. So produziert zum Beispiel eine homeotische Mutation im Antennapedia-Genkomplex bei Drosophila eine Fliege mit Beinen, die aus dem Kopf wachsen. Dies mag faszinierend sein, aber aus dem Blickwinkel des Organismus ist diese homeotische Mutation nicht hilfreich. Ähnlich zu bewerten ist die Induktion (=Auslösung) der Augenentwicklung bei Drosophila an falschen Körperstellen (durch das Gen eyeless). Erzeugt wird immer ein für Drosophila typisches Augenanalogon (auch bei Nutzung der homologen pax-6-Gene anderer Tiere), welches dem Insekt aber am Bein oder am Rücken nicht von Nutzen ist. Die Induktion der Anlage eines zusätzlichen Halswirbelkörpers bei der Maus (Gewinnmutation) durch veränderte Expression (=Ablesen der Information) des Hox a-7-Gens wird begleitet durch Missbildungen des Gesichtes und des Schädels. Die Tiere sterben unmittelbar nach der Geburt. Eine experimentell ausgelöste Verlustmutation (Inaktivierung des Hox a-3-Gens) führte zu einer gegenläufigen Ausprägung: Der 1. Halswirbelkörper verschmolz partiell mit der Schadelbasis, was zu deutlichen Funktionseinschränkungen der Beweglichkeit des Kopfes führt. Diese Befunde lassen sich beliebig fortsetzen. Viele bislang ungeklärte Missbildungsphänomene z.B. der Wirbelsäule (vermehrte Anlage von Steißbeinwirbeln beim Menschen), des Körperstammes (Anlage von mehr als zwei Brustwarzen beim Menschen) oder der Extremitäten (Contergan-Missbildungen, Vielfingrigkeit, verwachsene Finger) werden als Folge homeotischer Mutationen verständlich. Diese Missbildungen zeigen weiter, dass auch die Homeobox-Gene pleiotrope (=verschiedenartige) Wirkungen haben (ein Gen beeinflusst mehrere Merkmale) und dem evolutionären Wandel daher um so mehr im Wege stehen.
Für Richardson & Brakefield (2003) dokumentieren die vorliegenden Forschungsergebnisse bislang nur, wie man technisch Änderungen gestaltlicher Merkmale durch Beeinflussung der Homeobox-Gene in bekannten Organismen erzwingen kann. Diese Möglichkeiten sagen aber nichts darüber aus, ob, wie und warum gerade die genannten evolutionären Entwicklungen in einer natürlichen Umwelt stattgefunden haben.
Die Homeobox-Gene liefern somit nach bisherigen Erkenntnissen keinen Schlüssel zum Verständnis der Makroevolution infolge veränderter Embryogenesen. Denn Mutationen von Homeobox-Genen führen nicht zu konstruktiv sinnvollen Neuheiten, der Aufbau nachgeschalteter (regulierter) Strukturen durch Gene tinkering ist weitgehend spekulativ und die Entstehung der Homeobox-Gene liegt im Dunkeln. |
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