Wenn eine Art, das ein Organ in voll ausgebildeter Form besitzt, mit einer anderen Art, die dieses Organe nur rudimentär besitzt, kreuzbar ist, so kann die Kreuzbar-
keit als Indiz für eine tatsächlich erfolgte Rückbildung gelten. Dies ist beispielswei-
se der Fall beim blinden Höhlensalmler, der mit des sehtüchtigen Formen problem-
los kreuzbar ist (vgl. Abb. 2, Abb. 78). Als weiteres typisches Beispiel seien die Weisheitszähne des Menschen angeführt, die oft ganz spät durchbrechen. Man kann davon ausgehen, dass ursprünglich alle 32 Zähne des Menschen regelmäßig voll funktionstüchtig waren und auch gebraucht wurden. Dass der heutige Mensch die Weisheitszähne nicht mehr unbedingt braucht, hängt möglicherweise mit sei-
nen veränderten Essgewohnheiten zusammen. Daher war eine „degenerative“ Entwicklung dieses Backenzahns nicht nachteilig und deshalb möglich. Die Rück-
bildung der Weisheitszähne ist übrigens bei verschiedenen Menschen unter-
schiedlich. Als drittes Beispiel seien flugunfähige Insekten genannt, die auf wind-
umtosten Inseln leben (s. Mutation und Abb. 58].
Im Falle der Wale greift das Kriterium der Kreuzbarkeit nicht. Dafür sind sie viel zu verschieden von ihren mutmaßlichen landlebenden Vorfahren entfernt. Wie wird dann aber solchen Fällen eine Rückbildung erkannt? Im wesentlichen gibt es hier-
zu zwei Kriterien:
1. Funktionslosigkeit. Könnte man nachweisen, dass ein Organ gar keine Funk-
tion hat, also vollkommen nutzlos ist, könnte dies als Hinweis darauf gewertet werden, dass es früher einmal eine Funktion hatte und diese verloren hat. Die Bauchknochen der Wale kann man damit allerdings nicht als rudimentär erkennen, denn sie haben eine sehr wichtige Funktion: Sie bilden Ansatzstellen für die Mus-
kulatur der Geschlechtsorgane und möglicherweise für den Hebermuskel des After. Sie unterstützen außerdem die Bauchwand und die Eingeweide. Im übrigen ist Funktionslosigkeit schwer nachweisbar. Man kann oft nur sagen, dass eine Funktion unbekannt ist, nicht aber, dass es gar keine gibt. Schon in vielen Fällen wurden lebenswichtige oder mindestens nützliche Funktionen von Organen erkannt, die zuvor als funktionslos galten. Das Argument der Funktionslosigkeit ist also problematisch und nicht stichhaltig.
Eine Studie der amerikanischen Forscher William Parker und Mitarbeiter brachte neuerdings bezüglich der Funktion des Wurmfortsatzes des Menschen das Ergebnis, dass der Fortsatz eine Art Zufluchtsort („safe house“) und Rettungsstation für symbiotische Bakterien darstellt, die das Wachstum nützlicher Darmbakterien fördert und bei durchfallbedingten Darmentleerungen die Wiederbesíedlung mit diesen Bakterien ermöglicht bzw. erleichtert. Diesen Bakterien fällt die Aufgabe zu, die Ausbreitung gefährlicher Krankheitserreger im menschlichen Verdauungstrakt zu verhindern, was besonders nach Durchfallerkrankungen sehr wichtig ist. Details werden in Der Wurmfortsatz als Rettungsstation erklärt.
Unstimmigkeit von Struktur und Funktion. Eine gegenüber dem Argument der Funktionslosigkeit abgeschwächte Argumentation lautet, dass rudimentäre Orga-
ne eine im Vergleich zum strukturellen Aufwand zu geringe Funktion haben. Aber auch eine solche Unstimmigkeit von Struktur und Funktion ist kaum nachweisbar. |
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