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26.08.22  Wie fundiert sind Nasenrekonstruktionen bei Homininen?

Campbell et al. (2022) diskutierten die Rekonstruktion von Nasenweichteilpartien bei Homininen. Dabei stellten sie fest, dass in diesem Forschungsbereich nur wenige Studien vorliegen, obwohl Nasenpartien in vielen Medien in Rekonstruktionen dargestellt werden. Campbell et al. (2022) erstellten daher ein eigenes Rekonstruktionsmodell. Die Gruppe der echten Menschen, die aus Schöpfungsperspektive einen abgrenzbaren Grundtyp darstellt, besitzt in diesen Rekonstruktionen vielfältige, aber durchaus menschlich gestaltete Nasen. Die Nasen-Rekonstruktionen der großaffenähnlichen Australomorphen ist aber auch in diesem Modell mit methodischen Mängeln behaftet, so dass bis heute nicht geklärt ist, wie zum Beispiel die Nase der berühmten „Lucy“ (Australopithecus afarensis) tatsächlich ausgesehen hat.

 

1. Einleitung

Unter den Homininen (=aus evolutionärer Perspektive Menschen und menschenähnliche Vorfahren, die sich nach der Abspaltung der Schimpansenlinie entwickelt haben) wird eine Reihe von Formen aus evolutionärer Perspektive als mutmaßliche Vorfahren des Menschen seit der Abspaltung des Schimpansen interpretiert. Überall in Museen, Filmen oder Büchern werden diese Homininen mit Nasenpartien rekonstruiert. Dabei kann beim unvoreingenommenen Betrachter zum Teil der Eindruck entstehen, dass sie einen Übergang zwischen Großaffen und Menschen darstellen. Doch wie gut sind solche Nasen-Rekonstruktionen eigentlich begründet?

In einer neuen Studie aus dem Jahr 2022 haben sich Campbell et al. mit der Rekonstruktion von Nasenweichteilpartien bei Homininen näher beschäftigt. Ihre Ergebnisse werden hier kurz diskutiert.

 Abbildung: Nasenrekonstruktionen Links: Die Rekonstruktionen der Nasenpartie in Museen und Lehrbüchern von nichtmenschlichen Homininen – wie hier von „Lucy“ (Australopithecus afarensis) ­– sind bisher wissenschaftlich erstaunlich wenig fundiert. Rechts: Die Nasenrekonstruktionen von menschlichen Homininen wie Neandertalern (hier ein Mädchen) sind zwar empirisch besser begründet, aber ohne Weichteilstrukturen trotzdem mit Unsicherheiten behaftet. (Wikimedia: Neanderthal-Museum, Mettmann - Pressebilder, CC BY-SA 4.0; Fährtenleser, CC BY-SA 4.0)

 

2. Der bisherige Stand der Nasenrekonstruktionen

Campbell et al. (2022) sehen bisher einen Mangel bei der Erforschung der Weichteilstrukturen wie der Nase bei Menschenaffen – insbesondere bei der innerartlichen Vielfalt: „Die meisten evolutionären Studien zur Nasenregion haben sich auf moderne Menschen und Neandertaler […] konzentriert. Im Gegensatz dazu wurde dem Weichteilgewebe der Nasen von Menschenaffen nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir erkennen zwar an, dass die Nasen von Schimpansen auf ein gewisses Forschungsinteresse gestoßen sind, aber mit Ausnahme einer Studie gibt es praktisch keine Studien über Gorillas und Orang-Utans“.

Mit anderen Worten: Für heutige Großaffen und großaffenähnliche Australomorphen gibt es zwar viele Darstellungen, aber wenig wissenschaftliche Daten zur Rekonstruktion der Nasenpartie. Die Knochenstrukturen ermöglichen dabei bestenfalls eine grobe Orientierung für die Nasenrekonstruktionen. Für Menschen und Neandertaler liegen hingegen deutlich mehr Untersuchungen vor, so dass die Nasenpartien menschlicher Homininen auf einer breiteren Datenbasis fußen. Allerdings muss erwähnt werden, dass auch bei Neandertalern bisher keine Weichteilstrukturen bekannt sind (vgl. De Azevedo et al. 2017), welche definitive Aussagen ermöglichen.

Auf der Grundlage mehrerer möglichst einfach durchführbarer Messungen an Schädel und Nase bei heutigen Schimpansen und Menschen haben nun Campbell et al. (2022) eigene Gleichungen zur Rekonstruktion der Nase aufgestellt. Diese Rekonstruktionen basieren auf den Messungen der bei Fossilien häufig erhaltenen Winkel zwischen Hinterhauptsloch und Nasenansatz, Nasenspitze oder Oberkiefer an den Schädeln.1

 

3. Die Rekonstruktion nach Campbell und Kollegen

Die Ergebnisse der Rekonstruktionen von Campbell et al. (2022) sind in der folgenden Abbildung dargestellt:

Abbildung: Nasenrekonstruktionen von Campbell et al. (2022) Nasenrekonstruktionen basierend auf Schädelmessungen von Campbell et al. (2022) bei heutigen Menschenaffen (oben), ausgestorbenen Australomorphen (Mitte) und echten Menschen (unten). Problematisch an diesen Rekonstruktionen ist aber, dass eine evolutionäre Linie unkritisch vorausgesetzt wird. (Eigene Darstellung nach Campbell et al. 2022, Fig. 5, 6)

Es fällt auf, dass bei den nichtmenschlichen Arten „Homohabilis und „Homonaledi eine Nasenmorphologie rekonstruiert wird, die den Autoren zufolge „weder affenartig noch menschenähnlich ist“. Campbell und Kollegen halten deren Nasenmorphologie aber für „nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen“ für Übergangsformen zum Menschen. Die Australopithecinen weisen interessanterweise im Gegensatz zu den echten Menschen weder menschliche noch intermediäre, sondern affenähnliche Nasenstrukturen auf (s. Abb. 2).

Ähnlich schrieben auch der Paleo-Artist (Rekonstrukteur) Viktor Deak und der Paläoanthropologe G. J. Sawyer (2008, 186): „Bei den Australopithecinen lässt der Aufbau des Gesichtsskeletts darauf schließen, dass Lippen und Nase denen der heutigen Menschenaffen ähnelten und in ihrer Form ganz und gar nicht menschlich waren; die kleinen Eckzähne und die übrigen, ebenfalls recht menschenähnlichen Zähne lassen dagegen an ein Gesicht denken, dass nicht vollkommen affenartig war und sich von dem aller heutigen Affen unterschied.“

 

4. Methodische Probleme dieser Rekonstruktion

Doch leider sind auch die Rekonstruktionen von Campbell et al. (2022) – obwohl sie den aktuellen Forschungsstand darstellen – mit einigen methodischen Mängeln behaftet.

Erstens überlappen insgesamt vier von fünf Schädel-Nase-Messwerten von Mensch und Schimpanse, auf welche die Autoren ihre Rekonstruktionen aufbauen, stark (vgl. ebd., Tab. 2). Solche Befunde erschweren die Rekonstruktion der Merkmale.

Zweitens konnten überhaupt nur kleine Stichproben von Menschenaffen untersucht werden – was die Autoren auch ausdrücklich bedauern.

Drittens sind insbesondere beim Zwergschimpansen, Sumatra-Orang-Utan und dem Mantelpavian die mit dem Modell errechneten Vorhersagen für die Nasenhöhlenlänge zunehmend ungenau (ca. 1 cm bis 4 cm Abweichung; ebd., Fig. 4A). Auch die vorhergesagten Winkel der Nase unterscheiden sich von dem tatsächlich gemessenen Winkeln bei Gemeinem Schimpansen, Gorilla und Mantelpavian (1,0° bis 5,5° Abweichung; ebd., Fig. 4B).

Viertens geben Campbell et al. (2022) zu, dass die die Genauigkeit ihrer Vorhersage mit der „phylogenetischen Entfernung dieser Arten zu H. sapiens“ – also deren evolutionären Verwandtschaft zum modernen Menschen – abnimmt. Sollte es sich bei Australomorphen aber um einen oder mehrere nichtmenschliche Grundtypen handeln, die unabhängig von Menschen oder Großaffen erschaffen wurden, ist dementsprechend mit einer deutlich größeren Fehlerquote der Rekonstruktion zu rechnen. Schließlich setzen Campbell et al. (2022) aufgrund des evolutionären Modells – im Unterschied zum Grundtypenmodell – implizit voraus, dass die Australomorphen in ihren Merkmalen zwischen Schimpansen und Menschen stehen, und dass damit Rekonstruktionen weniger fehleranfällig seien.

Und fünftens ist die oben zitierte Aussage über die zunehmende Ungenauigkeit bei phylogenetisch größerer Distanz zu Homo sapiens nicht ganz mit den Ergebnissen der Rekonstruktionen von Campbell et al. (2022) vereinbar. Der Zwergschimpanse steht dem Menschen nämlich aus evolutionärer Perspektive genauso nahe wie der Gemeine Schimpanse, hat aber eine größere Ungenauigkeit in der Vorhersage der Nasenlänge als selbst der Gorilla (ebd., Fig 4A). Der Gorilla wiederum ist in der Vorhersage des Nasenwinkels ungenauer als der Orang-Utan, der seinerseits evolutionär gesehen noch weniger mit dem Menschen verwandt ist (ebd., Fig 4B). Campbell et al. (2022) stellen folgerichtig fest, dass die Ergebnisse der 3D-Modellierung bei Zwergschimpanse sowie Sumatra-Orang-Utan und Siamang (ein großer Gibbon) zu ungenau im Vergleich mit den tatsächlichen Messwerten der Nase sind.

Insgesamt legen die beschriebenen methodischen Mängel nahe, dass nach wie vor keine gut begründeten Nasen-Rekonstruktionen von nichtmenschlichen Australomorphen vorliegen.

 

5. Exkurs: „Neandertaler, wieso hast du eine so große Nase?“

Doch woher kommt es eigentlich, dass ausgestorbene Menschenformen andere Nasenformen aufwiesen – wie zum Beispiel die besonders große Nase der Neandertaler (vgl. Abb. 2)?

Lacruz et al. (2019) diskutieren den Bau des Mittelgesichts bei Homininen. Sie schlagen vor, dass das große vorstehende Mittelgesicht beim Mittelpleistozänen Homo (Homo heidelbergensis, Sima de los Huesos und Neandertaler) im Vergleich zum modernen Menschen vor allem auf eine große Nasenhöhle und oft auch auf große Nasennebenhöhlen zurückzuführen ist. Dies ist neben anderen Faktoren (z. B. Hormonspiegel) wahrscheinlich auch durch eine Anpassung an kaltes Klima bedingt, so dass eine große Nasenpartie die Luft entsprechend erwärmen und befeuchten kann.2 Lacruz und Kollegen (2019) sehen nur bei Homo erectus, Mittelpleistozänem Homo und modernem Menschen ein menschliches Mittelgesicht, nicht aber bei den sogenannten „Homo“-Arten habilis und rudolfensis, die nach Collard & Wood (2015) auch gar keine Menschen (Homo) waren. Lacruz et al. (2019) zufolge ist für den jüngeren „Homonaledi nur wenig vom Gesichtsschädel rekonstruierbar, außer dass er „transversal [in Querrichtung] flach, aber insgesamt sehr prognathisch“ war – also eine vorstehende Schnauze besaß.

Die Deutung, dass die großen Nasen der Neandertaler und anderer Menschenformen aus dem Mittelpleistozän Anpassungen an kalte Umgebungen in Europa, West- oder Zentralasien waren (vgl. Fabre et al. 2009, Fig. 2), findet auch bei heutigen Menschen eine Parallele. Bei diesen zeigt sich nämlich nach Zaidi et al. (2017, v. a. Tab. 1) ein deutlicher Zusammenhang von Nasenform und absoluter Feuchtigkeit sowie Temperatur des Lebensraumes. So haben Nord-Europäer in kälteren Klimaten zur Erwärmung der Luft die längsten und schmalsten Nasen (durchschnittlich 4,78 cm lang und 3,43 cm breit). West-Afrikaner in heißeren Klimaten besitzen hingegen die kürzesten und breitesten Nasen (durchschnittlich 4,63 cm lang und 4,54 cm breit).

 

6. Fazit

Die evolutionären Rekonstruktionen der Nasenpartien von nichtmenschlichen Homininen wie „Lucy“, die immer wieder in Museen, Medien und sogar Lehrbüchern gezeigt werden, sind äußerst spekulativ. Ursache hierfür sind die mangelnden empirischen Daten über heute lebende Menschenaffen und fossile Homininen sowie methodische Probleme bei Rekonstruktionsmodellen. Dies gilt leider auch für die neue Studie von Campbell et al. (2022), bei der die Australomorphen – passend zum Grundtypmodell – keine menschlichen Nasenpartien aufweisen.


Anmerkungen:

1 Winkelmessungen: Winkel Nr. 1: Basion – Nasion zu Basion – Pronasale. Winkel Nr. 2: Basion – Pronasale zu Basion – Prosthion. Basion: Der hinterste Punkt des Hinterhauptlochs (midsaggitale Ebene). Nasion: Schnittpunkt der nasofrontalen Naht in der Medianebene. Pronasale: Der vorderste Punkt der Nasenspitze. Prosthion: Der vorderste Punkt des Oberkiefers (midsaggitale Ebene).

2 Lacruz et al. (2019) stellen die Frage, ob auch eine zunehmende Sozialfunktion der Grund für eine „komplexere Topografie“ des Mittelgesichts beim modernen Menschen im Vergleich zum Mittelpleistozänen Menschen gewesen sein könnte. Diese Hypothese basiert aber nur auf evolutionären Annahmen und bleibt ohne vorliegende Weichteilstrukturen pure Spekulation. Das biblisch motivierte Grundtypmodell hingegen setzt voraus, dass der Mensch von Anfang an als Gottes Ebenbild und intelligentes, soziales Wesen erschaffen wurde, bevor er sich über die Welt verbreitete und sich im Rahmen von Mikroevolution an die Umwelt anpasste.

 

Literatur

Campbell RM, Vinas G & Henneberg M (2022) Relationships between the hard and soft dimensions of the nose in Pan troglodytes and Homo sapiens reveal the positions of the nasal tips of Plio-Pleistocene hominids. PLoS ONE 17, e0259329; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0259329.

Collard M & Wood B (2015) Defining the Genus Homo. In: Henke W & Tattersall I (Ed.) Handbook of Paleoanthropology, doi: 10.1007/978-3-642-39979-4_51.

De Azevedo S et al. (2017) Nasal airflow simulations suggest convergent adaptation in Neanderthals and modern humans. PNAS 114, 12442–12447, doi: 10.1073/pnas.1703790114.

Fabre V & Condemi S & Degioanni A (2009) Genetic Evidence of Geographical Groups Among Neanderthals. PLoS ONE 4, e5151, doi: 10.1371/journal.pone.0005151.

Lacruz RS et al. (2019) The evolutionary history of the human face. Nat. Ecol. Evol. 3, 726–736, https://doi.org/10.1038/s41559-019-0865-7.

Sawyer GJ & Deak V (2008) Der lange Weg zum Menschen. Lebensbilder aus 7 Millionen Jahren Evolution. Spektrum Akademischer Verlag.

Zaidi AA et al. (2017) Investigating the case of human nose shape and climate adaptation, PLoS Genet. 13, e1006616, https://doi.org/10.1371/journal.pgen.1006616.


Aktualisierung am 23.01.2023.

 


Autor dieser News: Benjamin Scholl, 26.08.22

 
© 2022


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