Ein Artikel von www.genesisnet.info

News auf genesisnet

29.09.20  Mann und Frau – auch im Gehirn unterschiedlich

Das menschliche Gehirn wird in verschiedenster Hinsicht intensiv diskutiert. Dabei geht es nicht nur um den Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn, sondern z.B. auch um geschlechtsspezifische Ausprägungen des Gehirn. Letztere wurden in der Forschung bereits vielfach belegt und gelten entgegen mancher populären Diskussion als geklärt. Hier wird eine aktuelle Studie vorgestellt, die geschlechtsspezifische Merkmale im menschlichen Gehirn auch auf molekularer Ebene aufzeigt.

Das menschliche Gehirn wird intensiv untersucht mit dem Ziel, dieses einzigartige Organ in seinem Aufbau, seiner Struktur, seiner Funktion und bezüglich seiner Bedeutung für den Menschen besser zu verstehen. Konkrete Projekte sind z.B. das 2010 gestartete „Human Connectome Projekt“, in dem die Verknüpfungen aller Neuronen beim Menschen untersucht und dokumentiert werden. Das „Human Brain Project“ ist eine entsprechende europäische Initiative, die seit 2013 eine Plattform zur Bündelung der Erforschung des menschlichen Gehirns bietet. Mit all diesen Anstrengungen sind ähnlich wie bei der Erforschung des menschlichen Erbguts große Erwartungen verknüpft, dass mit zunehmendem Verständnis des menschlichen Gehirns etwas Wesentliches vom Menschen zugänglich würde.
Ein geschlechtsspezifischer Unterschied in Aufbau und Funktion des  humanen Gehirns (Sexualdimorphismus) wurde in der Geschichte seiner Erforschung nie in Frage gestellt. Das Ausmaß der Unterschiede, ihre Ursache und ihre Bedeutung werden nach wie vor kontrovers diskutiert (Sacher et al. 2013, de Lacy et al. 2019, Pallayova et al. 2019).
Im Rahmen der erwähnten Projekte werden auch Gehirne von Tieren als Modell für das humane Gehirn untersucht, da diese experimentellen Methoden leichter zugänglich sind. Herausforderungen bestehen dann darin, die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus Tiermodellen auf das menschliche Gehirn zu prüfen. Am Gehirn von Mäusen sind geschlechtsspezifische Unterschiede gut untersucht und etabliert; dazu gehören (1) die Volumenverteilung der grauen Substanz in bestimmten Bereichen der Großhirnrinde (Kortex) und in subkortikalen Gehirnregionen; (2) die unterschiedlichen Volumina an grauer Substanz vor allem in Bereichen für soziales Verhalten und für die Fortpflanzung und (3) der Zusammenhang zwischen der räumlichen Verteilung der genannten Bereiche grauer Substanz und der Expression  geschlechtschromosomaler Gene – also deren Konzentration – im Gehirn erwachsener Tiere.

Liu et al. (2020) haben nun eine Arbeit vorgelegt, in der sie die Übertragbarkeit dieser Befunde aus dem Tiermodell auf den Menschen geprüft haben. Dazu haben sie zunächst zwei unabhängige und umfangreiche Datensätze von Schichtaufnahmen (Scans) genutzt, die durch bildgebende Verfahren von menschlichen Gehirnen gewonnen worden waren. Ein Datensatz stammt aus dem Human Connectome Projekt (HCP), der andere aus der englischen UK Biobank (UKB); insgesamt wurden mehr als 2000 Scans in diese Untersuchung einbezogen. Die geschlechtsspezifische räumliche Verteilung der Volumina der grauen Masse erwies sich in diesen Datensätzen als in hohem Maße reproduzierbar.

Weiter untersuchten Liu et al. die bisher beschriebenen im Gehirn ausgeprägten Gene (Transkriptom) und verglichen diese Daten mit der geschlechtsspezifischen Verteilung der grauen Substanz. Das Allen Institute for Brain Science liefert einen öffentlich zugänglichen Atlas mit ca. 16.000 Genen, die im menschlichen Gehirn in RNA umgeschrieben (transkribiert) werden. Dies ermöglicht zu prüfen, ob Gene der X-Chromosomen  bzw. des Y-Chromosoms bevorzugt in den geschlechtsspezifischen Bereichen des Gehirns transkribiert werden, wie das im Mausmodell nachgewiesen worden ist. Darüber hinaus können die im menschlichen Gehirn exprimierten Gene danach eingeteilt werden, inwieweit ihre Expression mit den geschlechtsspezifischen anatomischen Unterschieden in den Gehirnstrukturen gekoppelt ist.

Für die geschlechtsspezifischen strukturellen, anatomischen Unterschiede im menschlichen Gehirn führen die Autoren auch Erkenntnisse aus seltenen medizinischen Störungen an, die zeigen, dass Sexualhormone und die Menge an X- bzw. Y-chromosomalen Genen die Volumina der Gehirnbereiche beeinflussen, die in einer Population geschlechtsabhängige Anatomie aufweisen. Bei der Geburt werden ebenfalls geschlechtsspezifische Unterschiede in der menschlichen Gehirnanatomie beschrieben, zu diesem Zeitpunkt werden diese Differenzen vor allem durch die Gene und die Bedingungen in der Gebärmutter beeinflusst. Die Autoren resümieren zu diesem Aspekt Untersuchungen, wonach es kaum möglich ist, die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der menschlichen Gehirnstruktur allein auf die Umgebungsbedingungen zurückzuführen.

Weiter bestätigt die Studie von Liu et al. (2020) eine enge Verknüpfung der geschlechtsspezifischen anatomischen Unterschiede und der Expression von Genen der X-Chromosomen bzw. des Y-Chromosoms. Dies war zuvor nur in Mäusen, einem Modellsystem für den Menschen, beschrieben worden. Die Autoren sehen in diesem Befund auch einen Hinweis darauf, dass Steroide aus den Geschlechtsdrüsen nicht die einzigen Einflussgrößen bei der Musterbildung und geschlechtsspezifischen Verteilung der grauen Masse im menschlichen Gehirn sind.

Fazit. Auch wenn nach wie vor viele Fragen zum Unterschied im Gehirn von Mann und Frau offen bleiben und der experimentellen Untersuchung menschlicher Gehirne enge Grenzen gesetzt sind, so haben Liu et al. mit ihrer aktuellen Arbeit doch eindrucksvoll bestätigt, dass es eine Fülle von Befunden gibt, die für eine geschlechtsspezifische Unterscheidung des männlichen und weiblichen Gehirns sprechen. Wenn dann in der Titelformulierung einer populären Zusammenfassung – Überraschung anzeigend – formuliert wird: „Gehirn von Mann und Frau ist doch unterschiedlich“ (Podbregar 2020), dann zeugt das entweder von Ignoranz oder massiver weltanschaulicher Voreingenommenheit. Denn das ist, wie oben erwähnt, bereits lange bekannt und wird durch die hier vorgestellte Untersuchung nur einem konkreten Zusammenhang vertieft.

Dass bei der Übertragung von tierischen Modellen auf den Menschen Vorsicht geboten ist, zeigen Schaeffer et al. (2020) in einer aktuellen Untersuchung. Demnach weisen die Gehirne von Nagetieren und Primaten zwar eine vergleichbare Architektur auf, aber bei Mäusen, Krallenäffchen und Mensch sind funktionale Bereiche im Frontallappen unterschiedlich verschaltet. Das unterstreicht die Notwendigkeit, an Tiermodellen gewonnene Erkenntnisse vor der Übertragung auf den Menschen gründlich zu prüfen, wie das im Falle von Liu et al. (2020) vorbildlich gemacht worden ist.

Literatur

de Lacy N, McCauley E, Kutz JN & Calhoun VD (2019) Multilevel mapping of sexual dimorphism in intrinsic functional brain networks. Front. Neurosci. 13:332. doi: 10.3389/fnins.2019.00332

Liu S, Seidlitz J, Blumenthal JD, Clasen LS & Raznahan A (2020) Integral structural, functional, and transcriptomic analyses of sex-biased brain organization in humans. Proc. Natl. Acad. Sci. USA; www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1919091117 


Pallayova M, Brandeburova A & Tokarova D (2019) Update on sexual dimorphism in brain structure-function interrelationships: a literature review. Appl. Psychophysiology & Biofeedback 44, 271-284.


Podbregar N (2020) Gehirn von Mann und Frau ist doch verschieden. https://www.scinexx.de/news/biowissen/gehirn-von-mann-und-frau-sind-doch-verschieden/

Sacher J, Neumann, Okon-Singer H, Gotowiec S & Villringer A (2013) Sexual dimorphism in the human brain: evidence from neuroimaging. Magnetic Resonance Imaging 31, 366-375.

Schaeffer DJ, Hori Y, Gilberrt KM, Gati JS, Menon RS & Everling S (2020) Divergence of rodent and primate medial frontal cortex functional connectivity. Proc. Natl. Acad. Sci. USA; www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2003181117


Autor dieser News: Harald Binder, 29.09.20

 
© 2020


Über unseren Newsletter-Service werden Ihnen neue Nachrichten auch automatisch per E-Mail zugesandt.

News-Übersicht