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15.05.15  Der älteste „echte“ Vogel: überraschend modern

Ein sehr gut erhaltener Fossilfund eines amselgroßen Vogels aus der Jehol-Gruppe Nordchinas (Unterkreide) erweist sich als überraschend „modern“. Die neue Gattung Archaeornithura wird zur Gruppe der Ornithurae gestellt und ist deren ältester fossiler Nachweis. Da der „Urvogel“ Archaeopteryx auf einen evolutionären Seitenast gestellt wird, gilt nun Archaeornithura als ältester „echter“ Vogel – der aber alles andere als primitiv ist.

Von einem bemerkenswerten Fund eines Vogelfossils aus der fossilreichen Jehol-Gruppe im Nordosten Chinas berichten Min Wang und Kollegen von der Chinese Academy of Science, Beijing. Die etwa amselgroße Gattung Archaeornithura meemannae wird als ältester echter Vogel aus der Gruppe der Ornithurae (s. u.) eingestuft. Zu den Ornithurae werden auch die heute lebenden Vögel gerechnet. Bemerkenswert ist Archaeornithura wegen seines „modernen“ Aussehens – der älteste bekannte Vertreter der Ornithurae ist weit davon entfernt, zu den primitivsten seiner Gruppe zu gehören (Rekonstruktion unter http://tinyurl.com/pc5thj3).

Zur besseren Einordnung dieser neuen Art, von der zwei sehr gut erhaltene Exemplare fossil überliefert sind, muss ein wenig ausgeholt werden. Die Vögel werden in zwei Gruppen unterteilt, die Enantiornithes und die Ornithurae. Die Enantiornithes (deutsch: „Gegenvögel“) werden den anderen Vögeln (den Ornithurae) „gegenübergestellt“, weil bei ihnen die Gelenke zwischen dem Schulterblatt und dem Rabenbein im Vergleich mit den heute lebenden Vögeln (und den anderen Ornithurae) genau anders herum angeordnet sind: Bei den Enantiornithinen liegt am Schulterblatt eine Gelenkpfanne und am Rabenbein ein Gelenkzapfen vor; bei den Ornithuren ist es genau umgekehrt. Diese beiden gegensätzlichen Konstellationen können kaum auseinander hervorgegangen sein; deshalb werden die Enantiornithes und die Ornithurae in evolutionär zwei getrennte Linien gestellt.1

Der berühmte „Urvogel“ Archaeopteryx wird keiner der beiden Gruppen zugeordnet, sondern als phylogenetisch älter eingestuft als der mutmaßliche gemeinsame Vorfahr der Enantiornithinen und Ornithurinen und wie einige andere Gattungen aus dem Jura und der Unterkreide auf ein evolutionäres „Nebengleis“ gestellt. (Die Diskussion über seine stammesgeschichtliche Position und der überaus umfangreiche und kontroverse Gelehrtenstreit über die Art des Fluges bei Archaeopteryx sind bis heute nicht beigelegt; vgl. auch Fällt eine Ikone vom Sockel? und Immer rätselhafter: Der „Urvogel“ Archaeopteryx.)

Die Enantiornithes bilden eine formenreiche Gruppe (Chiappe 1995, 352) meist baumlebender Formen, die relativ plötzlich in großer Vielfalt in Schichten der Unterkreide auftauchen, aber am Ende der Kreide vollständig aus dem Fossilbericht verschwinden und vermutlich ausstarben. Dagegen lebten die gleichzeitig existenten Ornithurae in Wassernähe; diese Gruppe überlebte die Kreide-Tertiär-Grenze.

Archaeornithura besaß ein ziemlich modernes Federkleid mit asymmetrischen Schwungfedern und gut entwickelter Alula (Daumenfittich) mit mindestens drei Federn und fächerförmigen Schwanzfedern, die heutigen Vögeln erstaunlich ähnlich sind (Wang et al. 2015, 7). Beide Merkmale sind bei heutigen Vögeln für langsamen Flug und Manövrierbarkeit aerodynamisch wichtig. Archaeornithura dürfte daher ein guter Flieger gewesen sein. Die Knochen am Ende der Flügel sind stark verschmolzen und es ist eine U-förmige Furkula (verwachsenes Schlüsselbein) ausgebildet (Balter 2015) – beides Kennzeichen auch heutiger Vögel. Seine langen Beine waren nicht befiedert, was darauf hinweist, dass es sich um einen Watvogel gehandelt haben dürfte, der im flachen Wasser herum stakste und dort nach Nahrung suchte.

Archaeornithura gehört zu den Ornithurae und innerhalb dieser Gruppe zur Familie der Hongshanornithidae. Sein Alter wurde auf 130,7 Millionen (radiometrische) Jahre bestimmt, womit diese Gattung die älteste bisher bekannte ornithurine Form ist und das bisherige Höchstalter dieser Gruppe um ca. 5 Millionen (radiometrische) Jahre heraufsetzt. Man sollte erwarten, dass die älteste bekannte Form zu den eher primitiven Gattungen gehört, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Archaeornithura ist im Cladogramm (Ähnlichkeitsbaum) der Gruppe tief eingeschachtelt (Wang et al. 2015, 6); die neue Gattung ist innerhalb der Hongshanornithidae eine spezialisierte Form, wobei diese Familie ihrerseits innerhalb der Ornithuromorpha ebenfalls tief eingeschachtelt ist, anders als andere Taxa aus jüngeren Schichten (entgegen der zu erwartenden Reihenfolge). Wang et al. (2015, 6) sprechen von Inkonsistenzen zwischen Stratigraphie und Phylogenie, was die Annahme sogenannter Geisterlinien erforderlich mache. Außerdem müsse angenommen werden, dass der Ursprung der Ornithurae in die Zeit zurück verlegt werden muss. „Geisterlinien“ bedeutet, dass aufgrund der Stammbaumrekonstruktion (phylogenetische Analyse, die auf Merkmalsvergleichen beruht) die Existenz evolutionärer Linien zwar angenommen werden muss, dass dafür aber in größerem Umfang fossile Nachweise fehlen. (Das gilt natürlich nur, falls Evolution abgelaufen ist.)

Kommentar

Sowohl die Ornithurae als auch die Enantiornithes erscheinen in der Fossilabfolge nicht in Form einer wachsenden Verschiedenartigkeit, sondern relativ ausdifferenziert. Man sagt in solchen Fällen, die evolutionäre Aufspaltung sei rasch erfolgt (Balter 2015). Dass es – unter der Annahme von Makroevolution – Lücken in der Fossilüberlieferung gibt, ist nachvollziehbar. Wenn solche Lücken aber systematischer Natur zu sein scheinen und in größerem Umfang Geisterlinien angenommen werden müssen, ist aufgrund der fossilen Daten ein kritische Rückfrage an das zugrundeliegende Evolutionsmodell angebracht. Das gilt erst recht, wenn Geisterlinien auch bei anderen Tier- und Pflanzengruppen angenommen werden müssen (vgl. dazu Frühe fossile Fährten rangieren Übergangsformen aus zur Entstehung der Vierbeiner, Neuer Text über die kambrische Explosion über die kambrische Explosion oder Ullrich (2015) zur Entstehung der Säugetiere).

Literatur

Balter M (2015) When modern birds took flight. Science 348, 617.

Chiappe LM (1995) The first 85 million years of avian evolution. Nature 379, 349-355.

Feduccia A (2012) Riddle of the feathered dragons. Hidden birds of China. Yale University Press. New Haven and London.

Padian K & Chiappe LM (1998) The origin an early evolution of birds. Biol. Rev. 73, 1-42.

Ullrich H (2015) Wann entstanden die modernen Säugetiere? Einsichten aus Fossilien, Molekülen und Datierungen. Stud. Integr. J. 22, 23-29.

Wang M (2015) et al. The oldest record of ornithuromorpha from the early cretaceous of China. Nat. Comm. 6:6987, doi: 10.1038/ncomms7987

Anmerkung

1 Weitere markante Unterschiede sind unter anderem: Die Knochen haben im Vergleich mit anderen Vögeln ein einzigartiges Muster in der histologischen Struktur; es gab zyklische Pausen beim Knochenwachstum (Chiappe 1995, 352f.); die Zähne sind nicht gezackt und habe eine eingeschnürte Basis (Padian & Chiappe 1998, 27). Außerdem unterschied sich die Flugarchitektur (Feduccia 2012, 111).


Autor dieser News: Reinhard Junker, 15.05.15

 
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