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18.04.13  Endogene Retroviren – ein Beweis für gemeinsame Abstammung?

Im Erbgut des Menschen gibt es Abschnitte, die dem Genom von Retroviren auffallend ähnlich sind und an die Nachkommen vererbt werden. Solche endogenen Retroviren findet man ebenfalls im Genom anderer Primaten und zwar häufig an derselben Position und mit denselben Änderungen durch Mutationen. Dieser Befund wird als „Beweis“ für gemeinsame Vorfahren der Primaten präsentiert. Bei dieser Interpretation wird jedoch vernachlässigt, dass es in den verschiedenen Primaten auch spezifische retrovirale Sequenzabschnitte gibt und diese nicht alle stillgelegt sind; bei einzelnen sind Funktionen nachgewiesen worden. Möglicherweise sind endogene Retroviren gar nicht das, wonach sie auf den ersten Blick aussehen.

Im menschlichen Genom gibt es viele Abschnitte, die sich nicht permanent an derselben Stelle befinden, sondern mobil im Genom (=gesamtes Erbgut einer Art) ihre Position ändern können.  Diese mobilen Bereiche werden als  Transposons (transposable elements) bezeichnet und wurden 1948 von McClintock erstmals in Farbvarianten von Mais beschrieben (Nobelpreis 1983). Manche Transposons bewegen sich im Genom autonom, sie enthalten alle nötigen Voraussetzungen dazu, während andere auf Komponenten aus dem gesamten Genom angewiesen sind.

Zu den autonomen mobilen Elementen gehören auch endogene Retroviren. Darunter versteht man Abschnitte im Genom, deren Nukleotidsequenz derjenigen von Viren auffallend ähnlich oder sogar damit identisch ist. Die entsprechenden Retroviren weisen ein Genom aus RNA auf (im Gegensatz zum typischen DNA-Genom). Daher muss bei einer solchen Virus-Infektion das RNA-Genom vor der Integration (also dem Einbau) ins Genom der infizierten Zelle durch ein virales Enzym, nämlich der reversen Transkriptase in DNA umgeschrieben werden. (Die Bezeichnung „reverse Transkriptase“ bringt genau das zum Ausdruck: Statt des üblichen Umschreibens – Transkribierens – von DNA in mRNA geht es hier genau umgekehrt – revers.) Man nimmt an, dass Retroviren in der Vergangenheit Keimbahnzellen (Ei oder Samenzellen) infiziert und sich in deren Genom integriert haben. Somit werden sie von einer Generation an die nächste vererbt; diesen Status bezeichnet man als endogen.

Bis zu 8 % des menschlichen Genoms bestehen aus endogenen Retroviren. Einige davon wurden bereits als funktional beschrieben, die meisten aber werden nach derzeitigem Kenntnisstand als stillgelegt betrachtet, es ist bisher keine Funktion bekannt (Sugimoto & Schust 2009).

Retroviren und allgemein Transposons integrieren sich an sehr vielen unterschiedlichen Positionen im Genom. Aus Studien über krebsauslösende Viren ist bekannt, dass im Anfangsstadium der Infektion Retroviren an vielen unterschiedlichen Stellen im Genom auftreten, im Krebsgewebe aber findet sich das virale Genom in allen Zellen an derselben Position. Alle Krebszellen des Tumors sind also aus einer Zelle hervorgegangen, in deren Genom das Virus sich an bestimmten Stellen integriert hatte und dort ungehemmtes Wachstum auslöste.

Genomanalysen haben gezeigt, dass im Erbgut von Menschen und anderen Primaten dieselben Retroviren an denselben Positionen vorkommen und auch weitgehend dieselben Veränderungen durch Mutationen aufweisen. Im letzteren Fall könnten z. B. Defekte, die das virale Genom stilllegen, im gemeinsamen Vorfahren entstanden und dann vererbt worden sein. Dieser Befund passt gut zu einer Vorstellung, nach der Mensch und andere Primaten in ihrer Entstehung auf gemeinsame Vorfahren zurückgehen und unterstützt somit das  Evolutionskonzept.

Es gibt aber auch retrovirale Sequenzen, die an unterschiedlichen Stellen beim Menschen und Primaten liegen und die Erklärungen komplizierter machen. Entweder sind sie erst später, also nach der Artaufspaltung entstanden oder eine Spezies hat sie im Verlauf der getrennten Entwicklung verloren. Außerdem setzt die oben skizzierte Erklärung eines gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Primaten voraus, dass die retroviralen DNA-Abschnitte zutreffend als Relikte historischer Infektionen durch Retroviren interpretiert werden. Derzeit werden diese Abschnitte des Genoms als größtenteils funktionslos betrachtet. Wenn man sich aber unser begrenztes Verständnis des Humangenoms vergegenwärtigt und berücksichtigt, dass zudem durch das ENCODE-Projekt Hinweise dafür vorgelegt wurden, dass mehr als 80 % des gesamten Erbguts funktional sind, dann gibt dies Anlass, die „Beweiskraft“ der endogenen Retroviren für gemeinsame Vorfahren zurückhaltender einzuschätzen. Es könnte sein, dass zukünftige Untersuchungen für retrovirale Abschnitte noch mehr Funktionen (Sharif et al. 2013) belegen und damit andere Erklärungen erforderlich machen.

Die weitere Forschung muss zeigen, ob sich das Argument der vererbten Defekte bestätigt oder ob es durch ein besseres Verständnis möglicher Funktionen von endogenen Retroviren geschwächt wird und möglicherweise gar keine „Defekte“ vorliegen. Daher ist die plakative Behauptung, mit den endogenen Retroviren einen Beweis für die Abstammung des Menschen von affenartigen Vorfahren zu haben, nicht gerechtfertigt. Die derzeitigen Kenntnisse über endogene Retroviren ermöglichen für den Moment tatsächlich ein gutes Argument für Evolution – nicht mehr und nicht weniger. Schließlich muss auch bedacht werden, dass die Frage nach der Plausibilität einer Abstammungsbeziehung von Affen und Menschen nicht nur anhand eines einzigen Befundkomplexes – hier die endogenen Retroviren – beurteilt werden sollte.1

Anmerkung

1 vgl. Wie ähnlich sind Mensch und Schimpanse?

Über den genetischen Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse – der „1 %-Mythos“ 

Mensch und Schimpanse noch weiter auseinander

Literatur

Cowley M & Oakey RJ (2013) Transposable elements re-wire and fine-tune the transcriptome.  PLOS Genet. 9(1) e1003234. doi: 10.1371/journal.pgen.1003234.

Stoye JP (2012) Studies of endogenous retroviruses reveal a continuing evolutionary saga. Nature Rev. Microbiol. 10, 395-406.

Sharif J, Shinkay Y & Koseki H (2013) Is there a role for endogenous retroviruses to mediate long-term adaptive phenotypic response upon environmental inputs? Phil. Trans. R. Soc. B, doi.org/10.1098/rstb.2011.0340

Sugimoto J & Schust DJ (2009) Review: Human endogenous retroviruses and the placenta. Reprod. Sci. 16, 1023-1033.


Autor dieser News: Harald Binder, 18.04.13

 
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