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06.03.08  Wissenschaft oder Paläophantasie?

Unterschiedliche Ansichten zur Entwicklung des menschlichen Gehirns

Der bekannte Evolutionsbiologe Richard Lewontin (Harvard University) hat auf der Jahrestagung der AAAS (American Association for the Advancement of Science; 14.-18. 2. 2008 in Boston) das Auditorium mit seinen Ausführungen unter dem Titel „Warum wir nichts über die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten wissen“ herausgefordert und provoziert. Unter anderem führte Lewontin aus: Uns fehlt der Fossilbericht über die kognitiven (=Erkenntnis und Denken betreffend) Fähigkeiten des Menschen, deshalb erfinden wir Geschichten. Aus seiner Sicht erlaubt die Interpretation der Fossilien keine zuverlässige Rekonstruktion der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Außerdem warnt er davor, von der Größe fossiler hominider (=menschenartiger) Gehirnkapseln (Cranium) auf die kognitiven Fähigkeiten der Lebewesen zu schließen.

Diese ernüchternden Einschätzungen blieben auf der Tagung nicht unwidersprochen und so führt Balter (2008) in seinem Bericht von der Tagung in der Wissenschaftszeitschrift Science weitere Sprecher an, die sich zu diesem Thema äußerten und kontrovers darüber diskutierten.

Der Anthropologe Dean Falk (Florida State University, Tallahassee) führte Ergebnisse aus der vergleichenden Psychologie, Genetik, Neuroimaging und Paläoanthropologie an, die Beiträge zur Evolution menschlichen Erkenntnisvermögens leisten.

Christopher Welsh, Genetiker (Harvard Medical School) geht davon aus, dass Einsichten in die genetische Steuerung der Gehirnentwicklung beim modernen Menschen dazu beitragen können, die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns besser zu verstehen. So könnten Veränderungen am Gen ASPM, das bei der embryonalen Entwicklung von Nervenzellen beteiligt ist, aufgrund entsprechender Selektionsprozesse einen Mechanismus zur dramatischen Vergrößerung des Cortex (=Großhirnrinde) im Verlauf der Evolution der Hominiden liefern. Aus der Sicht der New Yorker Anthropologin Leslie Aiello stellen Fossilbericht und archäologische Befunde gute Hinweise auf die Hauptphasen menschlicher Evolution bereit. Diese dokumentierten die Trennung der Entwicklungslinien zwischen Schimpanse und Mensch oder die Erfindung von Steinwerkzeugen vor ca. 2,5 Millionen Jahren. Außerdem machte sie darauf aufmerksam, dass Modelle über Paläoklimata evolutionäre Ereignisse mit Veränderungen in der Umwelt in einen sinnvollen Zusammenhang bringen.

Marc Hauser (Psychologe, Harvard University) wies hin auf den Unterschied in der kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen Mensch und anderen „smart species“, womit er Tiere wie Schimpansen, Elefanten und Delphine bezeichnete. Aus seiner Sicht ist dieser Unterschied größer als derjenige zwischen diesen Tieren und Würmern. Er vergleicht die zweifellos oft erstaunlichen Fähigkeiten von Tieren z. B. beim Lösen von spezifischen Problemstellungen mit einer sog. „Laserstrahl-Intelligenz“ und stellt sie der menschlichen „Flutlicht-Intelligenz“ gegenüber. Menschen können nach Hauser Problemlösungen im Gegensatz zu Tieren auch auf viele neue Problemstellungen übertragen; der Werkzeuggebrauch bei Tieren unterscheide sich deutlich von entsprechenden Handlungen von Menschen. Hauser erhofft sich von den Untersuchungen solcher Unterschiede wichtige Hinweise auf die Evolution unserer Art.

Als Titel seines Berichts über diese Vorträge und Diskussionen bei der diesjährigen AAAS-Jahrestagung verwendet Balter (2008) eine interessante Formulierung: „How Human Intelligence evolved – Is it Science or Paleofantasy?“ Mit dem Begriff „Paläophantasie“ nimmt er einen Begriff auf, der von Leslie Aiello in einer Reaktion auf Lewontin verwendet worden ist. Letzterer ist bereits in der Vergangenheit durch unorthodoxe Äußerungen und Ideen – z.T. gemeinsam mit Stephen Jay Gould – aufgefallen. Richard Lewontin hat mit seinen provokativen Thesen den Wissenschaften einen wichtigen Dienst erwiesen, indem er auf die Gefahr hingewiesen hat, dass Interpretationen von Daten übertrieben und gesicherter dargestellt und auch übernommen werden als sie sind. Jedenfalls schafft dieser Bericht von den kontroversen Diskussionen auf der AAAS-Tagung Freiraum für verschiedene Denkansätze und weitere innovative Impulse. Darin hebt er sich wohltuend ab von Darstellungen, wie die von Morell & Musi (2008) in der jüngsten Ausgabe von National Geographic Deutschland, in welcher der Eindruck erweckt wird, dass der Unterschied in der kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen Menschen und Tieren nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zunehmend marginalisiert (=an den Rand gedrängt, unbedeutend gemacht) sei. Gerade beim Versuch, Ursprungsfragen zu klären, wird es wichtig bleiben, der Versuchung, Paläophantasien zu etablieren, zu widerstehen und Wissenschaft zu treiben – auch indem man deren Grenzen (be-)achtet.

Literatur

Balter M (2008) How human intelligence evolved – is it science or paleofantasy? Science 319, 1028.

Morell V & Musi VJ (2008) Können Tiere denken? National Geographic Deutschland 3/2008, S. 44-69.


Autor dieser News: Harald Binder, 06.03.08

 
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