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12.04.22  Epigenetik und programmierte Anpassungen

Hin und wieder wird von Organismen berichtet, deren Nachkommen auf neue Umweltprobleme reagiert haben. Häufig wird dies als „schnelle Evolution“, „rasante Evolution“ oder ähnliches bezeichnet. Ein besserer Begriff wäre „programmierte Anpassung“, denn es ist das Genom (Erbgut) selbst, das auf neue Herausforderungen vorbereitet ist und es den Organismen ermöglicht, sich an sie anzupassen. Diese außergewöhnliche Fähigkeit wird heute unter dem Begriff „Epigenetik“ gefasst und bezieht sich auf erbliche Veränderungen, die nicht auf Mutationen in der DNA-Sequenz zurückgeführt werden können. Der Begriff Epigenetik wurde eingeführt, um alle Prozesse zu erfassen, die auf die Genaktivität Einfluss nehmen, ohne dass dabei die DNA-Sequenz verändert wird. Die epigenetischen Veränderungen können sogar auf Tochterzellen übertragen werden. Seit fast einem Jahrhundert, nachdem der Begriff zuerst auftauchte, fängt man an zu verstehen, wie die Körper der höheren Organismen sich mittels der Epigenetik aus einer einzigen Zelle entfalten können.

Schmetterlinge schlüpfen als Raupen aus ihren Eiern. Aus den sechs kurzen Beinen der Raupe müssen sechs lange, elegante Schmetterlingbeine werden. Ihre Kiefern, mit denen die Blätter zerkauen, müssen durch den langen nektarsaugenden Rüssel ersetzt werden, und die einfachen Raupenaugen werden in Facettenaugen umgewandelt. Die Flügel – Organe, die die Raupe noch nie zuvor hatte – sollten ebenfalls ausgebildet werden. Darüber hinaus hat der erwachsene Schmetterling ein völlig neues Atmungssystem, das aus einem von außen in den Körper verzweigendes Luftröhrensystem besteht, das einen komplett neuen Brustkorb und ein neues Abdomen mit einem neuen Verdauungstrakt versorgt.

Diese Metamorphose ist ein Wunder. Das eine im Ei vorhandene Genom (und Epigenom, s. u.) mit seiner DNA-Sequenz einschließlich aller Modifikationen enthält zwei völlig unterschiedliche genetische Baupläne, von denen einer für eine Raupe verwendet wird, während der andere Informationen darüber enthält, wie der Schmetterling aussieht. Diese völlig unterschiedlichen genetischen Anteile an den Bauplänen von Raupe und Falter sollten natürlich nicht gleichzeitig aktiv sein, denn dann würde ein nicht lebensfähiges Ungetüm entstehen. In der Raupe muss der Bauplan des Schmetterlings unterdrückt werden, im Schmetterling muss der Bauplan der Raupe ausgeschaltet bleiben. Um dies zu erreichen, verpuppt sich das Tier und während der Puppenphase wird der Raupenbauplan langsam abgeschaltet und der des Schmetterlings aktiviert.

Die Metamorphose der Schmetterlinge ist ein sehr anschauliches Beispiel für Epigenetik. Wir finden umfangreiche epigenetische Prozesse aber auch in allen mehrzelligen Organismen, die sich aus verschiedenen ausdifferenzierten Zell- und Gewebetypen zusammensetzen.

Epigenetische Markierungen

Grundsätzlich enthalten alle Zellen von mehrzelligen Organismen annähernd die gleiche Menge an Genen. Ein Gen ist nur dann brauchbar, wenn es seine Funktion in den richtigen Zellen im richtigen Augenblick und in den richtigen Verhältnisse, ausübt. Dazu ist in jedem Zelltyp, in jedem Gewebetyp und in jedem Organ nur ein Bruchteil der totalen Anzahl der Gene erforderlich. Tatsächlich sind nur einige hunderte – maximal einige Tausende –  Gene pro Zelle aktiv. Eine differenzierte, ausgewachsene Leberzelle benötigt nur leberspezifische Gene, etwa 5% des Genoms. Ebenso braucht das Herz nur herzspezifische Gene, während T- und B-Zellen nur einen Bruchteil der Gene des Immunitätssystems verwenden. Wie steuern die Gewebezellen eine spezifische Anwendung der richtigen genetischen Programme?

Die Antwort ist: durch epigenetische Markierungen, d. h. funktionale Einheiten über der DNA-Sequenz. Es handelt sich um kleine Moleküle, die auf bestimmte Chromosomenabschnitte angehängt werden und auf diese Weise als genetische Schalter wirken, in dem sie Gene stummschalten oder aktivieren können. Epigenetische Markierungen weisen darauf hin, dass es in der Systemhierarchie der Genexpression eine übergeordnete Instanz gibt, die bestimmt, welche genetischen Programme verschlossen bleiben und welche zugänglich sind. Sie regulieren die Entwicklung und die Differenzierung der Zellen, indem sie die jeweils benötigen biologischen Programme zielgenau an- und abschalten können, und bedingen somit, dass aus einer Eizelle mehrere Hundert unterschiedliche Zelltypen entstehen.

Die wichtigsten epigenetischen Markierungen werden durch winzige biochemische Abänderungen hervorgerufen. In den Zellen ist eine Familie von Enzymen aktiv, die DNA-Methyltransferasen, die eine Methylgruppe, ein kleines, organisches Molekül, an vorbestimmte DNA-Sequenzen im Genom heften können. Durch die Ankupplung einer Methylgruppe wird diese Stelle im Genom gleichsam verriegelt, d. h. die genetische Information ist nicht mehr zugänglich und kann nicht mehr verwendet werden. Gene, die in einer bestimmten Zelle nicht notwendig sind, werden auf diese Weise inaktiviert und ausgeschaltet. Die Methylgruppen können von spezifischen Enzymen wieder entfernt werden, damit das genetische Programm wieder zugänglich und lesbar wird, falls das nötig wäre. Die DNA-Methylierung ist eine der bestgeklärten epigenetischen Mechanismen, die Zellen zur Verfügung haben, um organspezifische Gene ein- und auszuschalten.

Histoncode

Darüber hinaus kontrolliert auch der sogenannte Histoncode den Zugang zur genetischen Information. Histone sind Proteine, um die die Chromosomen (und damit DNA-Moleküle) geschlungen werden. Sie besitzen alle eine Domäne (Teil eines Proteins), die als Ausbuchtung aus den Proteinen hervorragt. Diese Domäne, oft bezeichnet als der Histonschwanz, ist aus Aminosäuren aufgebaut und kann, wie bei DNA-Methylierungen, mittels der Ankupplung chemischer Gruppen markiert werden. Die chemischen Markierungen der Histone bestehen aus Phosphatgruppen, Methyl- und Acetylgruppen werden durch Enzyme übertragen und bewirken, dass die Chromatinstruktur der Chromosomen lockerer (Euchromatin) oder kompakter (Heterochromatin) wird. Eine lockere Struktur vereinfacht die Transkription (Ablesung der Gen-Information) und erhöht die Genaktivität, während eine kompakte Struktur das Gegenteil bewirkt. Somit können diese epigenetischen Mechanismen die Transkription einzelner Gene oder ganzer Gruppen von Genen beeinflussen.

Die epigenetischen Markierungen eines Genoms beeinflussen auch die Art und Weise, wie sich das Chromatin in eine dreidimensionale Form faltet. Diese komplexe Faltung beeinflusst wiederum auch die Aktivität von Genen, indem sie verhindert, dass die Transkriptionsmaschinerie auf DNA-Regionen zugreift, die im Inneren des Genoms versteckt sind. Auf diese Weise können Zellen, die alle die gleiche DNA-Sequenz besitzen, zu verschiedenen Zelltypen werden. Der epigenetische Code enhält also Informationen, die der Zelle die Auswertung der genetischen Information ermöglichen, damit unterschiedlichen Organe, Gewebe und Zellen gebildet werden können.

Einflüsse auf die epigenetischen Markierungen

Ein interessantes Beispiel sind Studien, die zeigen, dass die epigenetische Markierung, und somit das Ein- und Ausschalten von Genen, durch Nahrung und Lebensweise (z. B. extreme Stressfaktoren) beeinflusst werden kann. Dies geschieht durch einen unmittelbaren Einfluss der Umgebung auf die epigenetischen Instruktionen, die der DNA und den Histonen vermittelt werden. Die dadurch entstandenen Markierungen können sogar von den Eltern über einige Folgegenerationen vererbt werden.

Bei Pflanzen ist es gut belegt, dass die Eigenschaften der Nachkömmlinge epigenetisch so gesteuert werden können, dass sie vorbereitet sind auf die Lebensbedingungen, denen die Mutterpflanzen selbst ausgesetzt waren. Das ist beispielsweise der Fall, wenn die nächste Generation einer bestimmten Pflanzenart vor Raupenbefall geschützt werden soll. Dieser Schutz wird dadurch verbessert, dass die Dichte der Trichome (haarähnliche Strukturen auf der Pflanzenepidermis) erhöht wird. Als Reaktion auf Raupenfraß reagieren die wilden Rettich-Pflanzen (Raphanus raphanistrum) sofort mit einer Erhöhung der Dichte der schützenden Trichome. Wenn eine Raupe das erste Blatt beschädigt, nimmt die Dichte der Trichome vom dritten bis zum siebten Blatt zu. Dadurch verringerte sich die Häufigkeit der Raupenbesuche auf neuen Blättern und folglich auch der Raupenfraß. Das Gleiche wurde bei der Gauklerblume (Mimulus guttatus) in Kalifornien beobachtet. Hier vererben die geschädigten Mutterpflanzen eine höhere Trichomdichte an die Nachkommenschaft im Vergleich zur Nachkommenschaft von unbeschädigten Pflanzen. Der Nachwuchs ist so im Vorfeld besser gegen die pflanzenfressenden Raupen geschützt, wenn es zu einem weiteren Befall kommt. Dies ist ein klarer Fall von Vererbung eines epigenetisch erworbenen Merkmals. Vergleichbare generationsübergreifende Anpassungseffekte wurden bei der Widerstandsfähigkeit gegen Dürreperioden, gegen hohe und niedrige Temperaturen und sogar bei der Resistenz gegen Virusinfektionen beobachtet (Herman et al. 2011).

Molekularbiologische Beobachtungen belegen ebenso, dass die Kopfverzierung bei Käfern unter modulierbarer epigenetischer Kontrolle erfolgt. Manche männlichen Käfer zeigen große auffällige Ornamente oder eine Hörner, die das evolutive Ergebnis sexueller Selektion sein sollen. Allerdings sind die Größe und das Ausmaß, in dem sich diese Strukturen in einem Individuum entwickeln können, variabel und von der Ernährung abhängig. 2016 berichtete eine japanische Forschungsgruppe, dass die Ernährungswirkung auf die Größe der Ornamente des breitgehörnten Mehlstampfers (Gnatocerus cornutus) durch epigenetisch modifizierende Faktoren vermittelt wird. Wenn eine der Histon-Deacetylasen (HDAC1) in den Käferlarven ausgeschaltet wurde, schrumpften die Kiefern der nachfolgenden erwachsenen Tiere, während die Dämpfung der Expression eines anderen Enzyms (HDAC3) zu einer übertriebenen Ausprägung von Mundwerkzeugen führte, ohne andere Körperteile zu beeinflussen (Ozawaa et al. 2016).

Epigenetik beim Menschen

Ebenso wie bei den Pflanzen und Insekten gibt es auch beim Menschen eine Vererbung epigenetischer Information, der durch die Lebensweise der Mutter, des Vaters oder sogar durch die der Großeltern festgelegt wurde. So kann beispielsweise ein geringer Wuchs von Babys rauchender Mütter auf epigenetische Änderungen zurückgeführt werden, namentlich auf die veränderten Methylierungsmuster der DNA. Eine niederländische Studie legt nahe, dass die Enkelkinder hungernder Großeltern immer noch denselben epigenetischen Code wie ihre Großeltern erworben haben.  Wiewohl noch immer nicht alle Einzelheiten bekannt sind, ist es klar, dass die Lebensweise und die Umgebung Einfluss auf die Eigenschaften des Nachwuchses ausüben.

Epigenetische Modifikationen erklären auch, wie die berühmten Darwinfinken als Reaktion auf plötzliche Umweltveränderungen wie Dürre oder Nässe sich so schnell anpassen können. Ein beachtliches Teil der Variation, die Darwin bei den Finken auf den Galapagos-Inseln beobachtete, wird heutzutage als umkehrbare epigenetische Veränderung erkannt (McNew et al. 2017). Diese Variation ist unabhängig von DNA-Mutationen und erfordert nur, dass die Information in der DNA auf eine andere Weise ausgeprägt wird.

Wenn neue Phänotypen nicht nur auf Mutationen in der DNA zurückzuführen sind, sondern auf reversible epigenetische Anpassungen, wie unterscheiden wir dann zwischen Evolution und programmierter Anpassung? Das kann nur durch detaillierte genetische Untersuchungen geklärt werden. Es ist jedenfalls möglich, dass Beispiele schneller Änderungen, die als Belege für Evolution interpretiert wurden, auf epigenetische Programmierung zurückzuführen sind. Programmierung ist aber ein Hinweis auf Planung und Voraussicht und somit auf einen Schöpfer.

Quellen

Herman JJ & Sultan SE (2011) Adaptive transgenerational plasticity in plants: case studies, mechanisms, and implications for natural populations. Front. Plant Genet. Genomics 2, 10-25.

Ozawaa T, Mizuharaa T, Aratab M, Shimadac M, Niimid T, Okadae K, OkadacY & Ohtaa K (2016) Histone deacetylases control module-specific phenotypic plasticity in beetle weapons. Proc. Natl. Acad. Sci. 113, 15042–15047.

McNew SM, Beck D, Sadler-Riggleman I, Knutie SA, Koop JAH, Clayton DH & Skinner MK (2017) Epigenetic variation between urban and rural populations of Darwin’s finches. BMC Evol. Biol. 17(1):183. doi: 10.1186/s12862-017-1025-9.

Autor dieser News: Peter Borger

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