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27.09.21  Atrahasis-Epos, Gilgamesch-Epos und die Sintflut

In welcher Beziehung stehen diese Fluterzählungen? Mit Bezug auf einen mutmaßlichen gemeinsamen Ursprung der Fluterzählungen in Mesopotamien ist festzustellen, dass die biblische Sintflut-Erzählung autark ist: Sie ist sehr wahrscheinlich älter als die Fluterzählung im Gilgamesch-Epos, und eine literarische Abhängigkeit von den babylonischen Fluterzählungen ist bisher nicht nachgewiesen.

von Michael Kotulla

1. Babylonische Fluterzählungen, ihre Datierung und Entwicklung

Altorientalische Fluterzählungen sind im Atraḫasis-Epos und Gilgamesch-Epos enthalten; daneben existiert noch eine stark fragmentarische sumerische Flutgeschichte. Die maßgeblichen babylonischen Manuskripte stammen aus der Tontafel„bibliothek“ des Assyrerkönigs Assurbanipal (669 – ca. 630 v. Chr.). Die Kolophone der drei Atraḫasis-Tafeln weisen als Schreiber oder Kopist Ipiq-Ayya und als Schreib- oder Abschlussjahr das zwölfte Jahr der Regierungszeit des Babylonierkönigs Ammi-ṣaduqa aus (nach Lambert & Millard 1969 ca. 1635 v. Chr.).

Die Flutgeschichte im Atraḫasis-Epos (Tafel III; Fragmente BM 78942 + 78971 + 80385) wird als Sturmereignis erzählt. Elemente sind u. a.: Auftrag zum Bau eines Bootes (der sumerische Weisheitsgott Enki an Atraḫasis); Atraḫasis, der seine Familie in das Boot schickt und bei Aufkommen des Sturms die Tür mit Bitumen verschließt; ein Sturm der Götter, der sieben Tage und Nächte andauert; eine dadurch veranlasste Flut; Vernichtung, die über das Volk kommt; der Mensch, der überlebt. 

Nach George (2003) erfolgte die Einarbeitung einer Flutgeschichte in das Gilgamesch-Epos erst nach dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Erst nach der Gewinnung des Atraḫasis-Epos sei erkannt worden, dass Tafel XI des Gilgamesch-Epos (babylonische Standard-Version) eine Adaption von Teilen dieses Erzählgedichtes ist.

Chen (2013, 253ff) folgert aus einer Studie des Flutmotivs, die auf Textquellen vom Frühdynastikum III (ca. 2600–2350 v. Chr.) bis zum Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends gründet, dass die mesopotamischen Fluttraditionen mit der Altbabylonischen Periode (ca. 2000–1600 v. Chr.) aufgekommen sind. Eine Analyse der Flutterminologie zeige an, dass die Flutbegriffe hauptsächlich im übertragenen (bildlichen) und mythischen Sinne verwendet wurden. Die Traditionen von der Flut als ein urzeitliches Ereignis in der mesopotamischen Kulturgeschichte gehörten zu dem Typ von ‚Traditionen‘, die alt schienten oder für sich beanspruchten, alt zu sein, aber neueren Ursprungs oder manchmal erfunden seien. Das Flutmotiv und seine literarische Dramatisierung seien in hohem Maße intellektuelle und kulturelle Konstrukte, die in bestimmten soziopolitischen Kontexten geschmiedet worden seien. Die Motivationen hinter diesen Traditionen seinen – trotz ihrer ideologischen Funktionen – nicht ausschließlich eigennützige Manipulationen und unbegründete Spekulationen gewesen. Man finde in zahlreichen dieser Traditionen eine moralische Vision, die dazu diente, die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesellschaft und Zivilisation zu fördern.

Schließlich können – so Chen (2013, 253ff) mit Fokus auf das Atraḫasis-Epos – die verschiedenen Stufen der literarischen Komposition verfolgt werden (S. 255, in Übersetzung): „(…) Von der Konzeption des Flutmotivs, zu der Entwicklung von diversen antediluvianischen [„vorflutlichen“; MK] Traditionen, zu der Komposition des babylonischen Flut-Epos, und schließlich zu der Adaption des Flut-Epos und verschiedenen antediluvianischen Traditionen in der babylonischen Standardversion des Gilgamesch-Epos.“

2. Sintflut und babylonische Fluterzählungen

Ein Textvergleich von Gilgamesch-Epos (Tafel XI) und Genesis 6–9 zeigt in Teilen Parallelen bzw. Übereinstimmungen bis ins Detail: Zum Beispiel das Aufsetzen des Bootes/des Kastens auf einem Berg/auf dem Gebirge; das Aussenden von Taube/Rabe bzw. Rabe/Taube; Darbringung eines Opfers.

Die Frage nach dem Verhältnis dieser Fluterzählungen zueinander geht zurück bis zur Veröffentlichung des Gilgamesch-Epos durch Smith (1873). Chen (2013, 1) gibt den heutigen Stand gut wieder; mit Bezug auf die [biblische] Sintflut schreibt er (in Übersetzung):

„Angesichts dessen, dass die babylonischen Erzählungen von den meisten Gelehrten für älter betrachtet werden als ihr biblisches Gegenstück und angesichts dessen, dass die Sintflut-Geschichte zu den geohydrologischen Gegebenheiten von Mesopotamien [besser, MK] als zu denen von Palästina passt, wird von den Gelehrten allgemein angenommen, dass die Sintflut-Geschichte in Mesopotamien entstand und schon in der Armana-Periode in der späten zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends nach Syrio-Palästina übertragen wurde. Die Rezension des Atrahasis-Epos (Ugaritica V 167 = RS 22.421 (…)), das in Ras Shamra entdeckt und um das vierzehnte Jahrhundert v. Chr. datiert wurde, unterstützt diese Sichtweise (Lambert & Millard 1969, 131–133).“ Die wesentlichen Punkte von Chen (2013) werden nachfolgend diskutiert.

Datierung Genesis und Schlussfolgerung. Hinsichtlich der Datierung der Genesis bezieht sich Chen (2013) wohl auf die weit verbreitete Akzeptanz einer späten Abfassung bzw. Endredaktion, etwa 800–400 v. Chr. Diese Sichtweise steht im Zusammenhang mit der traditionellen Urkundenhypothese oder Quellenscheidungshypothese (Wellhausen-Kuenen-System und spätere Modifikationen, vgl. Römer 2015). Unter dieser Voraussetzung wäre das Atraḫasis-Epos mindestens 800 bis 1200 Jahre älter (s. o.).

Koorevaar (2017) nennt zahlreiche Argumente dafür, die Endredaktion der Genesis auf ca. 1400 v. Chr. zu datieren, am Ende der Zeit von Moses. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass insbesondere die Erzählungen und Geschlechterfolgen in Genesis 1-11 vor ihrer endgültigen Fixierung eine längere Periode mündlicher und schriftlicher (?) Überlieferung gehabt haben.

Da inhaltliche Elemente, die Parallelen bzw. detaillierte Übereinstimmungen zur Sintflut-Erzählung aufweisen, erst im ersten Drittel des ersten vorchristlichen Jahrtausends in das Gilgamesch-Epos eingeflossen sind (s. o.), können diese durchaus der Sintflut-Erzählung entnommen worden sein. Umgekehrt ist festzuhalten, dass eine literarische Abhängigkeit des Sintflut-Berichtes zu den babylonischen Fluterzählungen bisher nicht nachgewiesen worden ist.

Die Flutgeschichte im älteren Atraḫasis-Epos (Tafel III) mag – grob und oberflächlich betrachtet – einen ähnlichen Handlungsstrang aufweisen wie die Sintflut-Erzählung. Konkrete inhaltliche Übereinstimmungen sind aber nicht festzustellen. In dem Epos werden mehrere Motive verarbeitet, wobei die Herkunft des Flutmotivs letztlich unklar ist (s. o.).     

Geohydrologie und Schlussfolgerung. Chen (2013) vergleicht die (früheren) geohydrologischen Gegebenheiten des Zweistromlandes mit denen des Jordantals. Während in Mesopotamien alljährliche Überschwemmungen von Euphrat und Tigris riesige Flächen unter Wasser setzen können (z. B. 1954; Lenzen 1964), ist dies für den ohnehin vergleichsweise kleinen Jordan nicht bekannt. Wohl deshalb sei es naheliegend, den naturhistorischen Ursprung der Sintflut-Geschichte in Mesopotamien zu suchen. Dabei geht Chen (2013) implizit von einem lokalen Flutereignis aus, obwohl in Gen 6-9 ein universales Flutereignis beschrieben wird (siehe Kotulla 2021).

Atraḫasis-Fragment aus Ugarit. Das Atraḫasis-Fragment aus Ugarit (NW-Syrien, nahe Mittelmeer) datieren Nougayrol et al. (1968, 1) auf ca. 1250 v. Chr., nicht auf das 14. Jh. v. Chr. wie Lambert & Millard (1969, 131). Es hat nur 20 Zeilen, die teilweise unleserlich bzw. nicht vollständig sind. In Zeile 2 wird eine von Göttern verursachte Flut erwähnt. Das Fragment enthält aber keine der Parallelen bzw. detaillierten Übereinstimmungen zur Sintflut-Erzählung, wie sie beim Gilgamesch-Epos (XI) vorliegen.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus Kotulla (2021), „Die Sintflut“: https://www.si-journal.de/jg28/heft1/sij281_4-28.pdf

Literatur

Chen Y (2013) The Primeval Flood Catastrophe: Origins and Early Development in Mesopotamian Traditions. Oxford, UK.

George AR (2003) The Babylonian Gilgamesh Epic. Volume I/II, Oxford (NY).

Koorevaar HJ (2017) Die Bedeutung der Post-Josephica für eine Datierung des Buches Genesis. In: Junker R (Hg.) Genesis, Schöpfung und Evolution. 3. Auflage, 219–240.

Kotulla M (2021) Die Sintflut. Studium Integrale Journal 28, 4–12, http://www.si-journal.de/jg28/heft1/sij281_4-28.pdf

Lambert WG & Millard A (1969) Atra-ḫasīs. The Babylonian Story of the Flood. Oxford.

Lenzen HJ (1964) Zur Flutschicht in Ur. Baghdader Mitteilungen 3, 52–64.

Nougayrol J, Laroche E, Virolleaud C & Schaeffer CFA (1968) Ugaritica V. Mission de Ras Shamra, Tome XVI, Paris.

Smith G (1873) The Chaldean Account of the Deluge. Transactions of the Society of Biblical Archaeology 2, 213–234. https://www.sacred-texts.com/ane/chad/chad.htm


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