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29.07.21  Ganz oder gar nicht: Die sich teilende Zelle benötigt mindestens 492 Gene

Im Jahr 2010 berichteten die Medien, dass Forscher die erste lebende Zelle im Labor synthetisiert hätten. Tatsächlich hatten sie aber keine Zelle konstruiert, sondern das Erbgut eines Mycoplasma-Bakteriums synthetisch nachgebaut und in eine andere mikrobielle Zelle transplantiert. 2016 wurde das ursprüngliche Genom (= gesamtes Erbgut) mit einem Umfang von 1,08 Millionen Basenpaare (bp) auf 531.000 bp reduziert.  Eine weitere Verkleinerung des Genoms war nicht möglich, da die Zelle sich dann nicht mehr teilen konnte und somit nicht mehr lebendig war. Im Jahr 2021 berichten dieselben Forscher, dass für eine korrekte Teilung mindestens 492 Gene erforderlich sind.

Manche Biowissenschaftler (Forscher im Bereich der Biologie) glauben, dass eine lebende Zelle hergestellt werden kann, wenn man nur die richtigen Biomoleküle zusammenbringt. Dieses sogenannte Bottom-up-Prinzip ist genau das, was J. Craig Venter sich vorgenommen hatte, um eine minimale Zelle herzustellen. Auch bekannt als genome warrior (Genom-Krieger) legte er als visionärer Biologe die Basis für eine sehr schnelle DNA-Sequenzierung. Er machte sich einen Namen, weil ihm die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu langsam voranging. Um hier schneller zum Ziel zu kommen, entwickelte eine neue revolutionäre Stategie, mit der man neue Gene sehr schnell sequenzieren konnte und nahm sein eigenes Genomprojekt mit seiner eigenen DNA in Angriff. Damit wollte er der Human Genome Organisation (HUGO), dem offiziellen internationalen Konsortium, das sich mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms beschäftigte, um einiges voraus sein. Seine Anstrengungen wirkten tatsächlich wie ein Katalysator für das HUGO-Projekt. Drei Jahre vor dem erwarteten Abschluss des offiziellen Programms, im Jahr 2000, präsentierte Venter zusammen mit Francis Collins dem damaligen Direktor des HUGO-Projektes, die Kartierung des kompletten menschlichen Genoms.

Erbgut-Austausch in einer Mikrobe

Später, im Jahr 2010 synthetisierte (bzw. kopierte) Venter die aus 901 Genen bestehende DNA der Mikrobe Mycoplasma mycoides im Labor und brachte sie in die Hülle einer anderen nahe verwandten Mikrobe, Mycoplasma capricolum, ein (Gibson et al. 2010). Das synthetische Genom ersetzte dessen originale DNA und die so mit fremder DNA ausgestattete Mikrobe war erstaunlicherweise lebensfähig. Die DNA von M. mycoides wurde damit das neue Erbgut des Bakteriums (M. capricolum). Damit gelang ihm ein erstaunlicher Durchbruch innerhalb der synthetischen Biologie, denn er hatte das DNA-Molekül Buchstabe um Buchstabe, Segment um Segment, im Labor synthetisiert und unter Anwendung von biotechnischen Methoden zusammengefügt. Unbestritten lieferte sein Team mit der Synthese des bakteriellen DNA-Moleküls eine enorme Leistung ein, dennoch ist bei diesem Experiment nicht Leben erschaffen worden.

Wiewohl diese Angelegenheit in den Medien viel Aufsehen erregte – „Wissenschaftler schaffen künstliches Leben“ schrieben  Journalisten – machte Venter grundsätzlich etwas Vergleichbares wie ein Autobastler, der in ein funktionsfähiges E-Mobil einen neuen Elektromotor einbaut, dessen Spule er selbst von Hand gewickelt hat und sich darüber freut, dass das modifizierte Automobil funktioniert. Genau genommen fertigte Venter überhaupt kein künstliches Leben an, sondern er transplantierte das synthetisch nachgebaute Erbgut einer Mikrobe in eine andere, sehr ähnliche Mikrobe. Eine verfahrenstechnisch imponierende Leistung, so aufsehenerregend wie die erste Herztransplantation.

Der nächste Schritt

Von seinem Erfolg beflügelt wollte Venter noch einen Schritt weitergehen. Er teilte sein Team in zwei Gruppen ein und beauftragte beide, unter Verwendung des gesamten verfügbaren biologischen Wissens und modernster Labortechnologie ein minimales DNA-Molekül zu entwerfen, das ein lebensfähiges Bakterium ermöglicht. Bald darauf wurden die beiden Entwürfe, die die Teams entwickelt hatten, im Labor synthetisiert, um dann die jeweils konstruierten Minimalgenome in Bakterien zu übertragen, denen zuvor die DNA entnommen worden war. Zu Venters Überraschung konnte keine der am Computer aufgrund molekularbiologischer Erkenntnisse entworfenen Genome das gesteckte Ziel erfüllen. Keine der beiden synthetischen Genomvarianten konnte die Zellen nach einer entsprechenden Transplantation funktionsfähig und lebendig  erhalten. Venter selbst hielt unsere heutige Kenntnis bezüglich der Biologie für nicht ausreichend, um einen lebenden Organismus zu erschaffen. Ironischerweise war die Arbeit der Wissenschaftler, die das Genom von M. mycoides 2010 kopiert hatten, sehr prägend und die Forscher zitierten eine leicht gekürzte Version von Richard Feynmans Ausspruch: Was ich nicht schaffen kann, verstehe ich nicht. 2016 zeigte sich wie angemessen dieses Zitat war: Venters Teams hatte es nicht geschafft, ein lebensfähiges DNA-Molekül zu entwerfen. Sie verstanden tatsächlich selbst vergleichsweise einfache Lebewesen zu wenig, um den Entwurf des Lebens nachvollziehen zu können.

Nach der ernüchternden Erfahrung von Venter und seinem Team versuchten die Forscher – in der Hoffnung auf ein spektakuläres Resultat –, das synthetische Genom zu reduzieren, verfuhren also nach einer top-down-Strategie. Dazu verwendeten sie sie dieselbe Mycoplasma-Art mit ihren 901 Genen, mit der sie bereits experimentiert hatten (s. o.). Aus fragmentierten Genomen erzeugten sie kleinere Genome, die weniger Gene enthielten und testeten diese nach entsprechender Transplantation auf die Fähigkeit, unter Laborbedingungen fortpflanzungsfähige Zellen zu erhalten, d. h. die genetisch verarmten Bakterien wurden auf Vitalität getestet. Dabei entdeckten die Forscher, dass die minimale lebende Zelle – „lebend“ definiert als die Fähigkeit zur selbständigen Reproduktion – mindestens 473 Gene benötigt (Hutchinson 2016). Würde man noch irgendein beliebiges anderes einziges Gen löschen, verliert der Organismus das Vermögen der Zellteilung und ist leblos. Erstaunlicherweise ist bisher von 149 der benötigten Gene, also etwa einem Drittel, überhaupt nicht bekannt, welche Funktionen sie erfüllen – man weiß nur, dass sie unverzichtbar sind. Darunter gibt es sogar 79 Gene, die noch nie jemandem aufgefallen sind. Die Schlagzeilen im National Geographic berichteten: „Wir haben die einfachste Zelle der Welt gebaut – aber wir wissen nicht, wie sie funktioniert“ (Krulwich 2016).

Die Bedeutung von Venters Experimenten

Venters Experimente sind sehr bedeutsam für die Biologie und das Verständnis der Lebewesen, da sie darauf hinweisen, dass es Bakterien mit weiter reduziertem Genom sich nicht mehr reproduzieren können. Lebende Systeme, wie wir sie kennen, sogar die einfachsten Mikroben, können nur dank mehrerer Hundert Gene existieren – das sind mehr als eine halbe Million DNA-Buchstaben, die sehr genau aufeinander abgestimmt sein müssen. Hätte Venter die Mycoplasma-Gene nicht sehr exakt nachgebaut und diese dann genau nach dem natürlichen Vorbild miteinander verknüpft, hätten sich die transplantierten Zellen nicht vermehrt – und die Schlagzeilen in den Zeitungen wären ausgeblieben. Die transplantierte Mikrobe konnte sich teilen („sie lebte“) dank der in den Genen vorhandenen Information, die schon immer im Genom von Mycoplasma existierte.

Doch bei weiteren Untersuchungen der sich teilenden Minimalzelle stellten Venter und seine Kollegen fest, dass sie keine identischen Tochterzellen produzierten, wie es alle natürlichen Bakterien tun. Stattdessen produzierten sie Tochterzellen mit bizarren Formen und Größen. Nach weiteren fünf Jahren des Experimentierens stellen Pelletier et al. (2021) nun fest, dass die Minimalzelle 19 zusätzliche Gene benötigt, um sich korrekt teilen und ausgewogen wachsen zu können.

Mit somit insgesamt 492 Genen hat diese Minimalzelle 33 Gene weniger als der „Minus-Rekordhalter“ der Natur mit dem kleinsten Genom, Mycoplasma genitalium, das 525 Gene enthält. Die Mycoplasmen selbst sind aber parasitär lebende Endomikroben, die für ihre Existenz eine Wirtszelle benötigen. Sie verfügen nicht über genügend genetische Information, um selbständig und autark zu leben. Die einfachsten autonomen, frei lebenden Mikroben benötigen noch viel mehr Gene als die parasitären Mycoplasmen. Zurzeit hält Actinomarina minuta, eine Mikrobe der marinen Actinobakterien, den Minusrekord mit etwa 800 Genen (Ghai 2013). Die 492 Gene in Venters Minimal-Zelle – eine enorme Menge Information – sind essentiell: Fehlt nur ein einziges Gen, ist die Mikrobe lebensunfähig.

Venters Versuche zeigen, dass lebende, sich reproduzierende Organismen nicht auf einzelne Gene zurückzuführen sind und dass lebende Organismen genetisch nicht beliebig reduzierbare holistische Informationssysteme beinhalten. Wie eine schrittweise Entwicklung verlaufen sollte, bei der ein Gen nach dem anderen entsteht, ist nach bisherigen Erkenntnissen vollkommen unklar. Ein einziges Gen hat für sich alleine keine Funktion. Zwei oder drei Gene bringen ebenso nichts. Sogar 300 Gene sind noch immer wirkungslos. Erst 492 Gene, etwa eine halbe Million DNA-Buchstaben in der richtigen Reihenfolge, ermöglicht einen sich selbst reproduzierenden Organismus (unter Labor-, d. h. optimierten Lebensbedingungen). Nur ein Gen weniger und es gibt keine DNA-Verdopplungen; und wenn es nicht zu DNA-Verdopplungen kommt, kommt es ebenfalls nicht zu Mutationen. Ohne Venters 492 Gene gebe es für die natürliche Auslese keine Arbeit, keine Weiterentwicklung, keine neuen Organismen.

Reproduzierende Organismen sind die wichtigste Voraussetzung für einen evolutiven Vorgang gemäß Darwins Theorie. Die Weiterentwicklung des Lebens kann erst mit einem Minimum von 492 Genen anfangen. Eine lebendige Zelle ist ein holistisches System!

Venter selbst kommentierte: „Vielleicht ist das Leben nicht aus unabhängigen Teilen aufgebaut, so wie man eine Maschine  in einer Werkstatt aufbaut. Vielleicht kann man nicht einen Haufen bekannter Gene nehmen, sie zusammenklemmen, wobei jedes sein eigenes Ding macht, und dann, wenn man die letzte Schraube anzieht, entsteht plötzlich – Tadaaa – ein neues Lebewesen. Anstatt sich auf die Gene zu konzentrieren, sollten wir vielleicht das ganze Betriebssystem betrachten – nicht die Gene, sondern das ‚Genom‘, ein funktionierendes Ganzes“ (Krulwich 2016). Dabei lebt ja auch ein komplettes Genom nicht, wenn es nicht in einer genau darauf abgestimmten komplexen Zelle steckt, denn nach wie vor ist eine Zelle die kleinste uns bekannte Einheit, die das Phänomen „Leben“ zeigt.

Literatur

Krulwich B (2016) We built the world’s simplest cell – but dunno how it works. https://www.nationalgeographic.com/science/article/we-built-the-worlds-simplest-cell-but-dunno-how-it-works

Ghai R et al. (2013) Metagenomics uncovers a new group of low GC and ultra-small marine Actinobacteria. Sci Rep 3:2471, doi: 10.1038/srep02471.

Gibson DG et al. (2010) Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genome. Science 329, 52-56.

Hutchinson III CA, et al. (2016) Design and synthesis of a minimal bacterial genome. Science 351, aad6253; doi: 10.1126/science.aad6253

Pelletier JF et al. (2021) Genetic requirements for cell division in a genomically minimal cell. Cell 184, 2430-2440.

Autor dieser News: Peter Borger

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