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Evolution: Paläontologie

Experten: Entstehung der Schildkröten

Inhalt

In diesem Artikel wird der Bauplan der Schildkröten vorgestellt und es werden evolutionstheoretische Hypothesen zu dessen Entstehung diskutiert. Außerdem werden die ältesten Fossilien von Schildkröten vorgestellt und diskutiert, inwieweit ihren Merkmalen Indizien für eine evolutive Entstehung entnommen werden können. Verschiedene evolutionäre Probleme insbesondere bezüglich der Mechanismen der Entstehung des Schildkrötenpanzers werden angesprochen.

Besonderheiten des Schildkröten-Bauplans

Phylogenetische Position der Schildkröten

Hypothesen zur Panzer-Entstehung

Zur Ontogenese des Panzers und die Carapaxfalte

Evolutionstheoretische Folgerungen

Fossilfunde

Zusammenfassende Diskussion

Nichtevolutionäre Deutung der frühen Schildkrötenfossilien

Zusammenfassung

Literatur

Besonderheiten des Schildkröten-Bauplans

Die Schildkröten besitzen den ungewöhnlichsten Bauplan unter den Reptilien. Mit ihrem zweiteiligen Panzer aus Carapax (Rückenpanzer) und Plastron (Bauchpanzer), die seitlich durch sogenannte „Brücken“ verwachsen sind, sind sie unverkennbar und deutlich verschieden von allen anderen Organismengruppen (Abb. 383, Abb. 384). Aber nicht nur der Panzer ist einzigartig; auch viele andere Körperteile weisen Besonderheiten auf. So ist Atmung durch Bewegung des Brustkorbs wegen des starren Panzers nicht möglich, weshalb die Schildkröten ganz spezielle Atemtechniken und dafür besondere Muskulatur benötigen; dabei werden auch Bewegungen der Vordergliedmaßen eingesetzt (beschrieben z. B. unter http://www.monta-n.net/sk/atem.html). Ungewöhnlich ist auch die Lage des Schulterblatts; es befindet sich innerhalb des durch die Rippen gebildeten Brustkorbs – eine charakteristische Besonderheit des Schildkrötenskeletts (Abb. 385). Aufgrund dieser ungewöhnlichen Lage sind die Schildkröten die einzigen Wirbeltiere, bei denen die Beine unterhalb der Rippen gelegen sind (Gilbert et al. 2008, 2). Die Veränderungen des Skelettbaus korrelieren auch mit größeren Änderungen im Bau des Schädels, des Halses, der Muskeln der Körperachse, der Extremitäten und ihrer Gürtel und des Kopulationsapparats (Gilbert et al. 2001, 47; Nagashima et al. 2005, 149, 150; Nagashima et al. 2009).

Der Rückenpanzer besteht aus Hautknochen, die mit verbreiterten Rippen und Dornfortsätzen der Rückenwirbel verwachsen sind. Der Bauchpanzer ist vorne mit Teilen des Schultergürtels verschmolzen. Über der Knochenlage der Hautknochen befindet sich eine dünne, aber reichlich mit Blutgefäßen und Nerven versorgte Hautschicht. Darüber folgen Hornschilder, Gebilde der Oberhaut, die ähnlich wie die Knochenplatten angeordnet sind. Der Panzer fungiert in verschiedenen Arten als pH-Puffer, Reservoir für Wasser, Fett und Abfall sowie als Ort der Blutbildung (Gilbert et al. 2008, 1f.). Es gibt viele Variationen des Panzerbauplans, die hier nicht beschrieben werden sollen (siehe dazu http://www.monta-n.net/sk/bewegung.html).

Der Schädel ist anapsid gebaut, d. h. er besitzt keine Schläfenfenster (vgl. Abb. 319). Heutige Arten besitzen keine Zähne, ihre Kieferknochen sind mit scharfen Hornschneiden bedeckt.

Gilbert et al. (2001, 47) stellen zur Besonderheit des Schildkrötenbaupans fest: „Insgesamt enthält der Panzer über 50 Hautknochen, die es in keiner anderen Wirbeltierordnung gibt, und die Ausbildung dieser Knochenumhüllung erforderte umfangreiche Veränderungen des Vierfüßer-Bauplans. … Der Hals, Schädel und Kopulationsapparat sind ebenfalls stark verändert.“

Die Einzigartigkeit des Bauplans wird auch daran deutlich, dass die systematische Stellung der Schildkröten schwer zu bestimmen ist. Der Grund dafür ist, dass nur wenige Merkmale Verbindungen zu anderen Amnioten (=Landwirbeltiere, deren Embryonen sich in einer mit Fruchtwasser gefüllten Amnionhöhle entwickeln)-Gruppen ermöglichen; es gibt zahlreiche Merkmalswidersprüche und Konvergenzen (=unabhängig erworbene, nicht abstammungsbedingte Ähnlichkeiten) (vgl. Artikel Ähnlichkeiten in der Morphologie und Anatomie) (Zardoya & Meyer 2001, 193; Lee 1994, 63; Lee 2001; Rieppel 2000, 209). „Es ist kein Zufall, dass mehr als zehn verschiedene Gruppen früher Tetrapoden (Vierbeiner) als mögliche Vorfahren der Schildkröten identifiziert wurden“ (Cherepanov 1997, 155).

Phylogenetische Position der Schildkröten

Von verschiedenen Autoren wurden die Schildkröten aufgrund morphologischer (=gestaltlicher) Merkmale unterschiedlich taxonomisch (=Ordnung der Lebewesen betreffend) eingeordnet (Rieppel 2000; 2008, 346; Laurin & Reisz 1995, 168f.). Lange Zeit galten sie als die einzigen Überlebenden unter den anapsiden Reptilien; diese besitzen kein Schläfenfenster im Schädel (vgl. Abb. 319). Damit würden sie zu den ursprünglichsten Amnioten gehören. Einige Autoren stellten sie jedoch wegen auffälliger Gemeinsamkeiten im Beckengürtel und den Hinterbeinen mit den Lepidosauriern trotz fehlendem Schläfenfenster zu den Diapsiden (vgl. Abb. 319). Bis Mitte der 1990er Jahre schien sich ein Konsens einzustellen, dass die Schildkröten zu den Parareptilien zu stellen seien, als mutmaßliche Vorläufergruppe galten die Procolophoniden oder die Pareiasaurier (Abb. 386; Lee 1993; 1994; 1996; 1997; 2001; Laurin & Reisz 1995; Benton 2007, 245; Rieppel 2000; 2008), jedenfalls konnte man auf einige Merkmalsübereinstimmungen wie einen steifen Panzer und einen kurzen Körper sowie auf einige Ähnlichkeiten im Schädel, Wirbeln, Rippen, Gürtel und der Gliedmaßen verweisen (Laurin & Reisz 1995, 168).

Neuere morphologische und vor allem molekulare Studien haben jedoch zu einer radikalen Neubewertung der Verwandtschaftsverhältnisse geführt, wonach die Schildkröten zu den als höherentwickelt geltenden diapsiden Formen (mit zwei Schläfenfenstern) zu rechnen sind (Cao et al. 2000; Rieppel & De Braga 1996; Zardoya & Meyer 1998; 2001; Wilkinson et al. 1997; Hedges & Poling 1999; Rest et al. 2003; Iwabe et al. 2005; Hill 2005). Nach neuerer Sicht gilt das Fehlen von Schläfenfenstern folglich als sekundär, das heißt die Schläfenfenster sind wieder verlorengegangen. Molekularen Studien zufolge sind die Archosaurier (Krokodile und Vögel) die heute lebende Schwestergruppe der Schildkröten, während morphologische Daten Lepidosaurier (Brückenechsen, Eidechsen und Schlangen) als nächste Verwandte nahelegen (Zardoya & Meyer 2001, 193). Aber auch verschiedene molekulare Studien führten nicht zu einheitlichen Ergebnissen (Zardoya & Meyer 2001, 194, Rieppel 2008, 348; vgl. Abb. 387, Abb. 388). Neuerdings sprechen vergleichende Daten der Embryonalentwicklung wieder dafür, dass Schildkröten eine alte Linie unter den Sauria sind (Werneburg Sánchez-Villagra 2009).

Verschiedene Untersuchungen führten zwar nicht zu einheitlichen Ergebnissen (s. o.), aber gemeinsam ist allen, dass die Schildkröten nach molekularen Studien eine relativ junge Linie innerhalb der Amnioten sein dürften. Das steht in Spannung zu paläontologischen Befunden, denn es wurden Fossilfunde gemacht, die bis zu 220 Millionen alt sind (s. u.). Aus der Obertrias (älter als 200 Millionen Jahre) sind mehrere Gattungen bekannt, die verschiedenen evolutionären Linien zugeordnet werden (vgl. z. B. Gaffney 1975).

Mit der Neuklassifizierung und den damit einhergehenden neuen Vorstellungen zur Phylogenese (=Stammesgeschichte) müssen die bislang als Homologien interpretierten Merkmalsübereinstimmungen zwischen den Pareiasauriern und frühen Schildkrötengattungen wie Proganochelys als Konvergenzen neu interpretiert werden (vgl. Laurin & Reisz 1995, 205f.). Hier wird beispielhaft deutlich, dass Merkmalsübereinstimmungen an sich kein sicherer Führer für Verwandtschaftsverhältnisse sein können, sondern erst im Rahmen einer phylogenetischen (=stammesgeschichtlichen) Hypothese entsprechend interpretiert werden können (vgl. Artikel Ähnlichkeiten in der Morphologie und Anatomie).

Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Scheyer & Sander (2007, 1885) feststellen, dass die phylogenetische Position der Schildkröten innerhalb der Amnioten eines der rätselhaftesten und kontroversen Probleme in der Wirbeltiersystematik sei (vgl. auch Ohya et al. 2005, 116).

Hypothesen zur Panzer-Entstehung

Bis vor kurzem konnte man bei Hypothesen zur Entstehung des Schildkrötenpanzers kaum auf Fossilfunde zurückgreifen (s. Abschnitt „Fossilfunde“). Aber auch ohne Fossilfunde kann man Überlegungen anstellen, wie der besondere Bau der Schildkröten entstanden sein könnte. Als ein Schlüssel zur Erklärung wurden und werden ontogenetische (=individuelle Entwicklung von der Befruchtung an) Befunde angesehen, und neuerdings kamen auch Erkenntnisse in der Genetik hinzu, die helfen sollen, die Entstehung des Schildkrötenbauplans zu verstehen. Unter den Kennzeichnungen „transformistisch“ und „emergentistisch“ beschreibt Rieppel (2009) zwei konkurrierende Hypothesen zur Entstehung der Schildkröten wie folgt:

Nach der transformistischen Sicht entstand der Panzer aus Hautknochen unter der Wirkung der natürlichen Selektion. Hautknochen gibt es bei vielen Arten, sie entstehen in tieferen Lagen der Haut. Bei den Schildkröten kam es nach dieser Hypothese zu einer Fusion von Hautknochen mit den Rippen und Wirbelfortsätzen.

Nach der emergentistischen Hypothese ist der Panzer dagegen durch Veränderungen in der ontogenetischen Entwicklung entstanden. Unabhängig von den Anpassungsprozessen, die durch die natürliche Selektion ausgelöst werden, bildete sich durch Neuverschaltungen von Steuergenen eine bisher nicht vorhandene Struktur. Man beachte hier die Verwendung des Begriffes „Emergenz“ („Auftauchen“). Damit ist eine aus den Vorbedingungen nicht ableitbare Neuheit zu verstehen; das kann man als „Überraschungseffekt“ bezeichnen. Dieses Verständnis ist typisch für den sogenannten Evo-Devo-Ansatz, wonach ein zufällig passendes, aber andersartiges Verschalten vorhandener Steuergene zu neuen Strukturen führen soll (vgl. Evo-Devo).

Zur Entstehung des Plastrons (Bauchschild) gibt es keine vergleichbar ausformulierten Hypothesen wie zur Entstehung des Carapax. Nach Kuratani et al. (2011, 3) sind Ursprung und Homologie des Plastrons nicht gut verstanden und die Evolution des Plastrons bleibt rätselhaft (S. 9).

Zunächst soll im Rahmen evolutionstheoretischer Vorstellungen dargestellt werden, welche Befunde jeweils für und gegen die beiden konkurrierenden Vorstellungen zur Entstehung des Carapax sprechen.

Zur Ontogenese des Panzers und die Carapaxfalte

Die Bildung des Schildkrötenpanzers hängt ontogenetisch eng mit der Ausbildung der „Carapaxfalte“ („carapacial ridge“, CR) zusammen, einer Aufwölbung aus Ektoderm und Mesoderm, die sich oberhalb der Extremitätenknospe in Längsrichtung auf der Körperflanke bildet (Abb. 389). Die CR ist eine einzigartige Struktur bei Amnioten (=Landwirbeltiere, deren Embryonen sich in einer mit Fruchtwasser gefüllten Amnionhöhle entwickeln) (Nagashima et al. 2007) und soll zu einer neuen Epithel (=Deckgewebe)-Mesenchym (=embryonales Bindegewebe)-Wechselwirkung geführt haben, die das Rippenwachstum beeinflusst und für deren fächerförmige Ausprägung verantwortlich ist (Burke 1989, 365; Burke 1991; Gilbert et al. 2001, 47; Nagashima et al. 2007). Die ersten ontogenetischen Abfolgen – Bildung der Körperachse, der Somiten (Ursegmente) und der Extremitätenknospen – sind bei den Schildkröten zunächst noch identisch mit denen anderer Tetrapoden (Vierbeiner). Erst wenn die Körperwand gebildet wird, weicht die Ontogenese deutlich bei der Entwicklung der Haut, der Wirbel und der Rippen ab (Burke 1989, 372; Rieppel 2001, 991; Kuraku et al. 2005). Die Rolle der CR zeigt sich darin, dass nach ihrer experimentellen Entfernung die Rippenbildung wie bei anderen Wirbeltieren verläuft (Burke 1991; vgl. Robert 2002, 602f.; Cebra-Thomas 2005, 559). Die CR gilt daher als eine Art Schlüssel-Organanlage, die eine notwendige Voraussetzung für die Bildung des ungewöhnlichen Schildkrötenbauplans darstellt.

Experimente mit der Muskulatur zeigten, dass die muskulären Veränderungen nicht so radikal sind, dass sie die morphologischen Homologien der einzelnen Strukturen zerstören würden (Nagashima et al. 2009, 195). Man kann also eine Homologie der Bauelemente konstatieren, aber diese gehen dann im Schildkröten-Bauplan teilweise neue Verknüpfungen ein.

Evolutionstheoretische Folgerungen

Aufgrund ihrer Schlüsselrolle in der ontogenetischen Bildung des Panzers wird der Entstehung der CR auch eine Schlüsselrolle in der phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Entstehung des Panzers zugewiesen (Burke 1989, 365). Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die CR histologische (gewebliche) Ähnlichkeiten (Homologien) mit der Extremitätenknospe („apical ectodermal ridge“, AER) aufweist (Nagashima et al. 2007). Diese Ähnlichkeit motivierte die Hypothese, dass die CR und im Gefolge ihrer Entstehung der Panzer durch eine Art „Mega-Duplikation“ der Extremitätenknospe entstanden sein könnte. „Mega-Duplikation“ bedeutet, dass mehrere vernetzte Gene oder ganze Bauteile verdoppelt und neuen Aufgaben zugeführt werden.

Dies würde eine große Veränderung in der frühen Embryonalentwicklung erfordern, die ziemlich sprunghaft verlaufen müsste, denn die Rippen können nur entweder unterhalb oder oberhalb des Schulterblatts lokalisiert sein (Rieppel 2001, 987, vgl. Abb. 385 und Abb. 389). Die Entstehung durch eine Mega-Duplikation soll eine schnelle Evolution plausibel machen (vgl. auch Burke 1989).

Die Hypothese einer Duplikation des AER wird durch die Nutzung mehrerer identischer Gene in der CR und der AER unterstützt, ihr stehen allerdings auch einige bedeutende genetische Unterschiede zwischen der CR und der AER entgegen (Loredo et al. 2001, Kuraku et al. 2005). Beispielsweise ist das für die Extremitätenentwicklung zentrale Gen fgf8 in der CR abwesend, was im Rahmen der Duplikationshypothese Zusatzhypothesen erfordert, die diesen unerwarteten Befund erklären.

Insgesamt ist eine Kooption der kompletten Steuerungskaskade des AER im CR als Erklärung der CR-spezifischen Gene sehr problematisch. Es müssten in diesem Fall weitere tiefgreifende ontogenetisch relevante Änderungen postuliert werden, die die Unterschiede zwischen CR und AER erklären – noch abgesehen von den erforderlichen Mechanismen.

Folgerungen für die konkurrierenden Hypothesen der Panzer-Entstehung. Die Bedeutung des CR für die Bildung des Panzers und die Ähnlichkeiten mit der AER können unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen als Argument für die Emergenzhypothese Rieppels gewertet werden. Die CR könnte als eine Mega-Duplikation der AER mit einigen anschließenden Veränderungen interpretiert werden. Aufgrund der vorhandenen Ähnlichkeiten von CR und AER ist ein schrittweiser Aufbau des CR (bzw. ein „Nachbau“ gleichsam nach dem Vorbild der AER) im Sinne der Transformationshypothese schwer verständlich. Denn wenn (nach der Transformationshypothese) Hautknochen allmählich vergrößert werden und mit den verkürzten und sich auffächernden Rippen und Wirbeln verwachsen, ist nicht zu erwarten, dass sich dabei eine CR mit Ähnlichkeiten zur AER bildet, dafür können  kaum irgendwelche Gründe plausibel gemacht werden. Diese Ähnlichkeiten sehen schon eher nach einer „Kopie“ aus.

Andererseits ist die emergente Entstehung sehr problematisch: Wenn die CR wirklich durch eine Mega-Duplikation (mit nachfolgenden weiteren Veränderungen) entstand, erfordern die deutlichen genetischen Unterschiede zwischen CR und AER eine Erklärung. In jedem Fall bleibt die Frage nach den Mechanismen der Rekrutierung sowie der Einfügung der CR-spezifischen Genkaskaden in den neuen Entwicklungszusammenhang offen, erst recht, wenn ein ganzer Komplex rekrutiert worden sein soll. Das würde viele Abstimmungen in den neuen genetischen und ontogenetischen Kontexten erfordern. Mit Begriffen wie „Kooption“ und „Rekrutierung“ wird nur ein vergleichend-biologischer Befund – nicht der evolutionäre Prozess selbst! – beschrieben, konkret die Nutzung derselben Gene in verschiedenen Zusammenhängen.

Nagashima et al. (2007, 2220) kommen zum Schluss: „Daher bleiben die Funktion der CR-spezifischen Gene und ihre Regulation, die den Mechanismus der Entwicklung des CR erklären könnten, rätselhaft.“ Damit aber fehlt vorerst die Basis, phylogenetische Hypothesen zur Entstehung des Panzers genauer prüfen zu können. Solange die ontogenetischen Abläufe noch „rätselhaft“ sind, kann der evolutive Werdegang erst recht nicht als geklärt betrachtet werden.

Fossilfunde

Bis vor wenigen Jahren gab es keine guten fossilen Hinweise auf mögliche Schildkröten-Vorfahren. Der Schildkröten-Bauplan erschien fossil ohne dokumentierte Bindeglieder; vermittelnde Formen fehlten unabhängig von der systematischen Stellung der Schildkröten. Schildkröten besaßen von Beginn ihrer Fossilüberlieferung an ihren typischen Bauplan (Gilbert et al. 2008), wenn auch die bis vor kurzem ältesten bekannten Gattungen Proganochelys und Proterochersis eine Reihe sogenannter Primitivmerkmale aufwiesen, so im Bau des Schädels, durch den Besitz von Gaumenzähnen oder durch den Besitz von Stacheln am Hals und am Schwanz (Pritschard 2008, 47f.; Benton 2007, 245ff.). Sie schützten ihren Kopf nicht durch Rückziehen in den Panzer (Halswender oder Halsberger), sondern mit Nackenstacheln oder mit einem Fortsatz des Carapax. Der Carapax von Proganochelys war jedoch im Wesentlichen gebaut wie der heutiger Schildkröten und das Plastron nahezu identisch mit dem vieler moderner Halswender-Schildkröten (Pritschard 2008, 46f.). Proganochelys quenstedti und Proterochersis robusta waren bis zum Jahr 2008 die ältesten bekannten fossilen Schildkröten.

Land oder Wasserschildkröten zuerst? Bis vor kurzem wurde eine Entstehung der Schildkröten im Wasser als wahrscheinlicher angesehen als eine Entstehung auf dem Land (z. B. Lucas et al. 2000, Maisch 2009). Joyce & Gauthier (2004) meldeten aufgrund der Proportionen der Extremitäten von zweien der ältesten fossilen Gattungen, Proganochelys und Palaeochersis, Bedenken gegen eine Entstehung im Wasser an und plädierten für eine Entstehung auf dem Land. Diese Sichtweise schien sich durch eine Untersuchung der Knochenfeinstruktur ihrer Panzer im Vergleich mit heutigen Landschildkröten zu bestätigen (Scheyer & Sander 2007). Nach den von Scheyer & Sander (2007) und Joyce & Gauthier (2004) vorgelegten Befunden konnten die Schildkröten nicht semiaquatisch, sondern muss­ten als Landtiere begonnen haben. Denn ihre Panzer waren ähnlich gebaut wie die Panzer heutiger Landschildkröten, und ihre Extremitätenproportionen passen am ehesten zu Landschildkröten. Auch aufgrund phylogenetischer Analysen spricht nach Joyce (2007) einiges für eine terrestrische (=auf dem Land lebend) Entstehung der Schildkröten. Schon früh in ihrer Geschichte nahmen danach die Schildkröten einen semiaquatischen und schließlich auch voll aquatischen und sogar einen sekundär terrestrischen Lebensstil an (Scheyer & Sander 2007, 1892; vgl. auch die Diskussion bei Lyson & Gilbert [2009]).

Im Jahr 2008 wurden zwei neue bedeutende Fossilfunde gemacht. Sie sollen zunächst beschrieben und anschließend bezüglich ihrer Bedeutung für die aufgeworfenen Fragen der Entstehung auf dem Land oder im Wasser und des Modus der Entstehung der Schildkröten (transformistisch oder emergentistisch) bewertet werden.

Odontochelys. Li et al. (2008) berichten von Fossilfunden einer Schildkröte, die einen Zwischenschritt in der Evolution des Panzers dokumentieren soll. Die neue Art Odontochelys semitestacea (Abb. 390) wurde in Schichten in der südwestchinesischen Provinz Guizhou in Küsten-Ablagerungen entdeckt, die mit datierten 220 Millionen Jahren noch etwas älter sind als die bislang älteste Schildkröte Proterochersis (ca. 214 Millionen Jahre; s. o.). Der Artnahme bedeutet sinngemäß „Halbpanzerschildkröte mit Zähnen“, womit zwei wesentliche Unterschiede zu heutigen Schildkröten angedeutet sind.

Zum einen waren Ober- und Unterkiefer des Tieres bezahnt und hatten keine schnabelartigen Kieferleisten wie heutige Schildkröten. Zum anderen war zwar der Bauchpanzer (Plastron) des etwa 40 cm großen Tieres voll entwickelt, der Rückenpanzer (Carapax) bestand aber nur aus Neuralplatten; die rückenseitigen Rippen waren lediglich verbreitert. Hautknochen waren nicht ausgebildet. Li et al. (2008) schließen daraus, dass sich der bauchseitige Panzer vor dem Rückenpanzer entwickelt hat und dass der erste Schritt der Entstehung des Rückenpanzers in der Verknöcherung von Neuralplatten und Verbreiterung der Rippen bestand. Diese Abfolge stimmt mit dem Verlauf der frühen Embryonalentwicklung der heutigen Schildkröten überein.

Gegen die Deutung, es handle sich um ein jugendliches Exemplar, sprecht nach Li et al. (2008, 499) die Verschmelzung von Sprungbein (Astragalus) und Fersenbein (Calcaneum). Diese Forscher stellen die Hypothese auf, dass sich der Schildkrötenpanzer in zwei Etappen gebildet hat, zuerst das Plastron, danach der Carapax, während man bislang davon ausgegangen war, dass sich beide Panzerteile zusammen entwickelt hätten (Maisch 2009, 201). Entsprechend soll sich die CR in zwei Etappen gebildet haben (Nagashima et al. 2009, 196). Im Wasser wäre eine solche Abfolge insofern plausibel, als ein Bauchpanzer vor Feinden von unten (vor lauernden Räubern) schützen konnte, während ein Schutz von oben weniger erforderlich gewesen wäre.

Der Interpretation von Li et al. stellen Reisz & Head (2008) in einem Kommentar jedoch eine andere entgegen: Lange, verbreiterte Rippen sind Bestandteile des Rückenpanzers aller Schildkröten. Deren Vorkommen bei Odontochelys sei ein Hinweis darauf, dass das embryonale Gewebe, welches die Bildung des Carapax kontrolliere, ebenfalls vorhanden gewesen sei. Ebenso sei die Verbindungsbrücke zwischen Carapax und Plastron ausgebildet, was ebenfalls für die Anwesenheit eines Carapax spreche. Zusammengenommen spreche das für die alternative Interpretation, dass ein Carapax doch ausgebildet gewesen sei, jedoch einige seiner Teile nicht verknöchert gewesen seien. Diese Interpretation von Odontochelys führe zur Möglichkeit, dass dessen Panzer nicht primitiv, sondern stattdessen eine spezialisierte Anpassung durch einen sekundären Verlust gewesen sei (Reisz & Head 2008, 451), also keine Ausprägung, die einem frühen Ontogenesestadium entspricht. Eine Reduktion der Hautknochen ist bei wasserlebenden Schildkröten verbreitet; die Deutung einer Spezialisierung passt also zum vermutlichen Lebensraum von Odontochelys im küstennahen Wasser. Diese Ausprägung könne durch ein Stehenbleiben der Entwicklung auf einem jugendlichen Stadium (sog. Pädomorphose) zustande gekommen sein.

Allerdings passt die Bezahnung, die evolutionstheoretisch als ursprüngliches Merkmal gelten muss, nicht ohne weiteres zu dieser Deutung. Denn wenn Odontochelys als eine spezialisierte Schildkrötenart interpretiert wird, wäre eher zu erwarten, dass sie wie die anderen Schildkröten Hornplatten statt Zähne besitzt. Außerdem gelten das Basipterygoidgelenk zwischen Gaumen und Hirnschädelbasis, das den Gaumen wie bei Proganochelys beweglich machte, und die Flügelbeine (Pterygoide) im Gaumenbereich mit vermutlich ausgebildeten Querfortsätzen, die bei Proganochelys reduziert sind, als Primitivmerkmale.

Merkmale können jedoch auch mosaikartig kombiniert sein; eine spezialisierte wasserlebende Art kann bezahnt gewesen sein. Einerseits ist der Rückenpanzer von Odontochelys mit keinen frühontogenetischen Stadien heutiger Schildkröten vergleichbar und sein Bau weicht von dem anderer aquatischer (=im Wasser lebend) Schildkröten ab. Andererseits ist das Plastron von Odontochelys gut verknöchert und „lässt sich nicht von dem anderer Schildkröten unterscheiden“ (Maisch 2009, 201). Die Rippen sind wie bei heutigen Schildkröten nicht ventral stark gebogen, sondern seitwärts abstehend und verkürzt. Wird das Fehlen des Carapax bei Odontochelys als ursprünglich interpretiert, stellt sich die Frage nach den Selektionsdrücken, die die Entstehung einer Vorstufe des Carapax wie z. B. seitwärts stehender Rippen begünstigen konnten. Im Falle einer sekundären Rückbildung erübrigt sich diese Frage, da sich ein Verlust viel leichter ereignen kann als ein Neuerwerb.

Insgesamt besitzt Odontochelys ein Merkmalsmosaik, das nicht problemlos in ein stammesgeschichtliches Schema eingeordnet werden kann. Wie in vielen anderen Fällen auch zeigt sich, dass Mosaikformen nicht ohne weiteres als evolutive Übergangsformen interpretierbar sind.

Die alternative Interpretation der Befunde durch Reisz & Head würde die Frage nach dem Ursprung der Schildkröten unverändert offen lassen und sogar verschärfen: Denn demnach wäre ausgerechnet eine spezialisierte Form die bislang älteste.

Die Merkmalskombination von Odontochelys passt im Rahmen des Evolutionsparadigmas eher zur Emergenzhypothese, da der Fund – evolutionstheoretisch interpretiert – nicht zur Vorstellung eines allmählich rundum entstehenden Panzers passt.

Lyson & Gilbert (2009, 134) kommentieren: „Die neue Entdeckung des wunderbar erhaltenen Fossils O. semitestacea produziert mehr Fragen als Antworten, eröffnet neu die Frage nach dem Ursprung der Schildkröten, der Evolution des Panzers und der ursprünglichen Paläoökologie. Eine Lösung dieser Probleme muss auf weiteres Fossilmaterial und auf eine Vereinheitlichung der morphologischen (=gestaltlichen), entwicklungsbiologischen und molekularen Daten warten, die eine Hypothese zuungunsten anderer unterstützt."

Chinlechelys. Nachdem mit der Entdeckung von Odontochelys die Waage überraschend wieder zugunsten einer Entstehung der Schildkröten im Wasser ausgeschlagen war, scheint ein weiterer kurz darauf veröffentlichter ähnlich alter Fund diese Deutung erneut „massiv in Frage“ zu stellen (Maisch 2009, 201). Joyce et al. (2009) beschreiben Bruchstücke einer auf 215 Millionen Jahre datierten fossilen Schildkröte Chinlechelys tenertesta aus der Obertrias von New Mexico, bei der Panzer und Rippen nicht miteinander verschmolzen waren. Erhalten sind allerdings nur wenige Osteodermen (Hautverknöcherungen) des Hals- und Schwanzbereichs und Elemente des Panzers (Teile des Carapax und Hypoplastrons), weshalb weitergehende Schlussfolgerungen nur vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse durch vollständigere Funde gemacht werden können.

Bedeutsam ist nach Auffassung von Joyce et al. (2009), dass die primitiven, vertikal orientierten dorsalen Rippen der neuen Schildkröte nur eine schwache Verbindung mit den darüber liegenden Seitenschilden des Carapax aufweisen (Abb. 391). Das weise darauf hin, dass es sich hier um zwei unabhängig voneinander verknöchernde Strukturen handelt. Die Carapax-Knochenelemente sind sehr dünn (bis maximal drei Millimeter). Diese Beobachtungen an Chinlechelys unterstützen die Hypothese, dass der ursprüngliche Schildkrötenpanzer nur aus Schutzstrukturen der Haut bestand, und zwar rundum, der dann erst später mit den Rippen und Wirbeln des Innenskeletts verschmolzen ist und es sich somit beim Schildkrötenpanzer nicht um eine „Neuerfindung“ handelt, sondern dass er sich eher aus einer Vorläuferlinie kontinuierlich entwickelt hat. Der Fund passt also – anders als Odontochelys – eher zur klassischen transformistischen Entstehungshypothese. Die lose Verbindung zwischen den Rippen und den Hautknochen, die sehr dünne Panzerung und der „beginnende doppelte Kontakt der dorsalen Rippen mit den Centra der Wirbel“ können gut als intermediäre Ausprägungen zwischen nichtgepanzerten Vorläufern und vollgepanzerten Schildkröten interpretiert werden (Joyce et al. 2009, 510f.).

Die für die Beurteilung wesentlichen Panzerelemente (Seiten- und Wirbelsäulenschilde, Costalia und Neuralia) sind also keine Auswüchse (Verbreiterungen) der Knochen des Innenskeletts (Rippen, Wirbel), wie einige embryologische Untersuchungen nahelegen. Joyce et al. betrachten damit die embryologischen Befunde, wonach der Panzer direkt aus den Rippen entsteht, als nicht maßgeblich. Darauf kommen wir weiter unten zurück.

Dieser Fund spricht nun wiederum für eine terrestrische (=auf dem Festland lebend) Entstehung der Schildkröten und für das klassische Modell und lässt sich mit Odontochelys nicht in eine Reihe bringen, es sei denn man interpretiert das Fehlen der Rückenpanzerung bei Odontochelys doch als Rückbildung. Andernfalls müssten Chinlechelys und Odontochelys als Vertreter deutlich verschiedener evolutiver Linien interpretiert werden, was auf eine mindestens biphyletische (=Entwicklung in zwei unabhängigen Linien) Entstehung der Schildkröten hinausliefe.

Zusammenfassende Diskussion

Ontogenetische Befunde und die Bedeutung der Carapaxfalte. Wie entstand die Carapaxfalte („carapacial ridge“, CR) und wie entstanden die Interaktionen mit der CR, die zur Bildung des Panzers geführt haben sollen? Die Bedeutung der CR für die ontogenetische Bildung des Panzers wurde eingangs erläutert. Die CR, eine Aufwölbung aus Ektoderm und Mesoderm, die sich oberhalb der Extremitätenknospe in Längsrichtung auf der Körperflanke bildet, ist eine einzigartige Struktur, die unter den Amnioten nur bei den Schildkröten bekannt ist, und soll zu einer neuen Epithel-Mesenchym-Wechselwirkung geführt haben, die das Rippenwachstum beeinflusst (s. o.). Durch die Wechselwirkung mit der CR biegen die Rippen zur Seite ab und der Schultergürtel positioniert sich innerhalb des Brustkorbs (Abb. 385, Abb. 389). Die CR wird als eine Art Schlüssel-Organ­anlage betrachtet, die eine notwendige Voraussetzung für die Bildung des ungewöhnlichen Schildkrötenbauplans darstellt.

Im Abschnitt „Evolutionstheoretische Folgerungen“ wurde die Hypothese der Entstehung des Schildkröten-Panzers als Folge einer Mega-Duplikation (Verdopplung) erläutert. Die Duplikation der Randleiste („apical ectodermal ridge“, AER) der Extremitätenknospe soll zu einer Aufwölbung aus Ektoderm und Mesoderm und damit zur CR geführt haben, was wiederum ein verändertes Rippenwachstum zur Folge hatte und mit der Bildung des Panzers korreliert sein soll. Die CR wird nach dieser Hypothese als Schlüsselneuheit interpretiert, die zur Entstehung des Schildkrötenbauplans führte.

Damit wird aber nur eine notwendige, jedoch bei weitem nicht hinreichende Voraussetzung für die Entstehung des Schildkrötenpanzers geliefert. Ob diese Veränderung ursächlich für den mutmaßlichen evolutionären Wandel ist, ist hypothetisch. Denn der Weg zur „Installation“ der CR auf dem Wege einer Duplikation ist vollkommen unklar. Eine „Mega-Duplikation“ (mit den weiter oben diskutierten  erheblichen Einschränkungen) kann nur dann funktional sein, wenn viele Wechselwirkungen zugleich aufeinander abgestimmt werden; es sind bei einem solchen Vorgang sonst schwere Missbildungen zu erwarten. Wie eine solche vielfache Abstimmung von Einzelteilen vor sich gehen soll, also wie z. B. die Duplikation der AER das veränderte Rippenwachstum und die anderen Veränderungen hervorgebracht haben soll, die wiederum zur Bildung des Panzers geführt haben sollen, darüber wird keine Rechenschaft abgegeben. Daher steht die Idee, mit der evolutiven Neubildung der CR eine schnelle und sehr umfangreiche Neubildung plausibel machen zu können, auf sehr schwachen Füßen.

Nagashima et al. (2005, 149) betrachten die Verschiebung des Rippenwachstums in seitliche Richtung als Basis für veränderte Wechselwirkungen zwischen den Geweben, die zu den Hautknochen und verbreiterten Platten des Carapax führen. Eine kleine räumliche Veränderung in der Entwicklung (Heterotopie) könne zu einer größeren morphologischen Änderung führen. Auch hierbei handelt es nur um Begleit­erscheinungen oder notwendige Voraussetzungen, denn eine Heterotopie für sich alleine kann keine Erklärung sein, da zum einen die verschiedenen Bauelemente koordiniert geändert werden müssen, was zahlreiche aufeinander abgestimmte Schritte benötigen würde, und zum anderen auch neue Wechselwirkungen entstehen mussten. Auch Cebra-Thomas et al. (2005) beschreiben in ihrem Modell nur notwendige Bedingungen bzw. Begleiterscheinungen der Panzerbildung.

Die alternative Erklärung einer allmählichen Entstehung des Panzers durch sukzessives Größerwerden von Hautknochen und ihr Verschmelzen mit Rippen und Wirbelteilen wirft auf der anderen Seite die Frage auf, wie es unter diesen Umständen zu den auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen der CR und der AER kommen konnte (die im Abschnitt „Evolutionstheoretische Folgerungen“ dargestellt wurden). Rieppel (2009) nennt zwei Probleme der Transformationshypothese: Wie konnte es zur Fusion mit den Rippen kommen, da sie normalerweise in den Bauchraum wachsen? Und wie gelangt das Schulterblatt ins Innere des Brustkorbs? Nach der transformistischen Hypothese bewegte sich der Schultergürtel während der Evolution der Schildkröten nach hinten, so dass er innerhalb des Panzers zu liegen kam, der seinerseits die Rippen einschloss. Dafür gibt es jedoch keine Befunde als Anhaltspunkte; in der Embryonalentwicklung heutiger Schildkröten tritt eine solche Bewegung nicht auf (Rieppel 2009, 154).

Die notwendigen Umbauten erforderten nicht nur Veränderungen im Skelettbau, sondern abgestimmte Änderungen anderer Teile des Bauplans. So ist die Muskulatur stark verändert und einige Muskeln haben neue Ansatzstellen (Nagashima et al. 2009). Dass dafür geringe Anpassungen von Entwicklungsabfolgen ausreichen (Joyce 2009, 512), muss bezweifelt werden. So erfordert die Ausbildung neuer Muskelansätze innovative Änderungen, die mehr als bloße Anpassungen beinhalten. Um die Tragfähigkeit evolutiver Modelle beurteilen zu können, müssen die genetischen und entwicklungsbiologischen Details bekannt sein. Wie erwähnt ist hier vieles ungeklärt, weshalb darauf aufbauende evolutionäre Hypothesen nur vage formuliert werden können. Dabei ist immer zu bedenken, dass einzelne Strukturen immer in der Wechselwirkung mit anderen gesehen werden müssen.

Die ältesten Fossilfunde unterstützen widersprechende Hypothesen. Die ältesten Schildkrötenfunde unterstützen insofern evolutionstheoretische Deutungen, als diese Gattungen (wie Proganochelys) mutmaßliche Primitivmerkmale besitzen, z. B. in der Kopfmorphologie, und dass unter den älteren fossilen Gattungen Tendenzen hin zum Bau der modernen Formen gibt (Gaffney et al. 1987; Gaffney & Kitching 1994; Rougier et al. 1995; Benton 2007, 245ff.; Pritchard 2008). Und manche Merkmale können als intermediär zwischen Schildkröten und mutmaßlichen Vorläufern gelten. Es sei hier vor allem an die Gattungen Odontochelys und Chinlechelys erinnert. Doch diese Befunde sind nur ein Teil einer komplexen Befundlage. Es sind nämlich folgende Punkte zu berücksichtigen:

• Die Bestimmung „ursprünglich“ / „abgeleitet“ („höherentwickelt“) ist objektiv allein anhand der jeweiligen Merkmalszustände nicht möglich. Diese Kennzeichnung erfolgt im Rahmen phylogenetischer Hypothesen und kann je nach Datenlage wechseln. Dies wird besonders deutlich an der Wertung des anapsiden Schädels der Schildkröten. Diese Schädelform gilt gewöhnlich als ursprünglich; bei den Schildkröten wird sie seit gut einer Dekade als abgeleitet gewertet. Viele als Homologien betrachtete Merkmale, die früher eine Verwandtschaft der Schildkröten mit den Pareia­sauriern oder Procolophoniden begründeten, müssen nach den neueren molekularen Studien als Konvergenzen gewertet werden.

• Die ältesten Funde sind morphologisch sehr facettenreich mit einer mosaikartigen Merkmalsverteilung und müssen deshalb – in einer evolutionstheoretischen Lesart – sehr verschiedenen Linien zugeordnet werden. Während Odontochelys als wasserlebend angesehen wird, war Chinlechelys sehr wahrscheinlich landlebend. In eine evolutive Reihe passen die beiden Gattungen auch aufgrund ihrer Merkmalsausprägungen nicht; sie müssen evolutionstheoretisch auf verschiedene divergente Linien gestellt werden (s. o.). Die Gattung Proterochersis (ca. 214 Millionen Jahre; s. o.) besitzt einige abgeleitete Merkmale, ist aber älter als die „primitivere“ Gattung Proganochelys (ca. 206 und ca. 212,5 Millionen Jahre: s. o.). Unter den Schildkröten tauchen also fossil zwar die insgesamt „primitiveren“ Formen zuerst auf, aber sie sind von Beginn der Fossilüberlieferung an in deutlich verschiedene Formen aufgefächert. Die widersprüchlichen Merkmalsverteilungen unter den frühen Formen (Rougier et al. 1995; vgl. Rieppel & de Braga 1996), können evolutionstheoretisch nur als Hinweis auf eine konvergente Evolution parallel existierender Linien gewertet werden.

• Die beiden ältesten Gattungen Chinlechelys und Odontochelys begünstigen die beiden konkurrierenden Panzer-Entstehungshypothesen; Chinlechelys passt eher zur Transformationshypothese, während die Merkmale von Odontochelys eher für die Emergenzhypothese sprechen. Dieser Umstand nötigt dazu, beide Gattungen evolutionstheoretisch auf verschiedene Äste zu stellen oder Odontochelys als abgeleitet und das Fehlen des Carapax als sekundär zu interpretieren (vgl. Abschnitt „Neue Fossilfunde“). Der erstere Fall liefe auf eine zweifach unabhängige Entstehung der Schildkröten hinaus, was evolutionstheoretisch sehr problematisch wäre.

Molekulare Daten und der Fossilbefund. Die zeitliche Stellung der Fossilien scheint im Vergleich zur systematischen Position deutlich zu früh zu sein. Wie oben erwähnt ermittelten Mannen & Li (1999) aufgrund molekularer Befunde eine Divergenzzeit für die Trennung der Alligatoren- und Schildkrötenlinie von 151,6 ± 23,7 Millionen Jahren. Die ältesten Schildkrötenfossilien werden dagegen auf etwa 220 Millionen Jahre datiert. Aus der Obertrias (um 200 Millionen Jahre und älter) ist eine große Fülle fossiler Formen bekannt. Wie ist diese deutliche Inkonsistenz von molekularen Daten und dem Fossilbericht zu deuten?

Eine Untersuchung der Vorderextremitäten der nach phylogenetischen Analysen ursprünglichsten Schildkrötengattungen Proganochelys und Palaeochersis durch Joyce & Gauthier (2004) ergab, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um landlebende Schildkröten handelt. Dagegen weisen phylogenetische Studien wasserlebende Formen als ursprünglich aus. Diese Diskrepanz molekularer und paläontologischer Daten könnte durch Odontochelys (s. o.) gemildert werden, falls diese Gattung primär wasserlebend war.

Einzigartige Merkmalskombinationen und Konvergenzen. Eingangs wurde bereits angesprochen, dass die Schildkröten systematisch mit keiner anderen Amniotengruppe gut verbunden werden können. Es gibt für die diskutierten und weit divergierenden systematischen Positionen der Schildkröten jeweils Argumente; die Schildkröten sind ein besonders schwer zu klassifizierendes Taxon (Wilkinson et al. 1997; vgl. Joyce & Gauthier 2004, 1). Die Schildkröten sind zu allen möglichen Gruppen hin im Bau deutlich abgegrenzt. Dendrogramme weisen ein hohes Maß an Konvergenzen auf (vgl. Rieppel & de Braga 1996, 454; Rougier et al. 1995; Hill 2005). Beispielsweise müssen die gleichen Änderungen des Schultergürtels und der Extremitäten in mehreren Linien von wasserlebenden Schildkröten angenommen werden (Depecker et al. 2006); sehr ähnliche Schädel- und Panzerformen kommen bei den Emydidae, Geoemydidae und Testudinidae vor (Claude et al. 2005). Und einen keulenartigen Schwanz besitzt nicht nur eine der ältesten fossilen Gattungen, Proganochelys, sondern 180 Millionen Jahre später auch die Landschildkröte Meiolania platyceps; und die heute lebende Landschildkröte Chelus fimbriatus hat einen auffallend ähnlichen Bau wie Proganochelys. Viele konvergente Entwicklungen müssen auch in den beiden Hauptgruppen der Cryptodira und Pleurodira angenommen werden (Gaffney 1975, 391, 421f.).

Der Befund weitverbreiteter Konvergenzen ist evolutionstheoretisch insofern problematisch, als vernetzte Merkmalsbeziehungen der verschiedenen Taxa aufgrund von Konvergenzen in einem evolutionstheoretischen Baumschema auf höherem taxonomischem Niveau eher die Ausnahme und nicht die Regel sein sollten. Denn in einem evolutionären Prozess, der ohne jede Zielorientierung abläuft, ist die zwei- oder mehrmalige Entstehung derselben oder einer sehr ähnlichen Struktur sehr unwahrscheinlich.

Probleme des Umbaus. Bei einer Evolution der Schildkröten ausgehend von Amnioten-Vorfahren müssten sehr weitgehende „Umbaumaßnahmen“ vorgenommen worden sein. Diese Problematik wurde am Beispiel des Panzers angesprochen und soll hier an einem weiteren Beispiel kurz verdeutlicht werden. Die Rippen erfüllen bei landlebenden Vierbeinern Funktionen in der Atmung und der Fortbewegung: Beide Funktionen können sie bei den Schildkröten nicht (mehr) erfüllen. Durch die Verwachsung der Rippen mit dem Panzer fehlt die Beweglichkeit des Brustkorbs. Die Atmung muss daher durch Bewegung über die Extremitäten unterstützt werden und erfordert ganz neue spezielle Atemtechniken und dafür besondere Muskulatur (genauer beschrieben z. B. unter http://www.monta-n.net/sk/atem.html oder unter http://www.ausgabe.natur-lexikon.com/Schildkroeten.php). Der Übergang zu dieser andersartigen Atemtechnik wäre besonders schwierig gewesen, wenn er in landlebenden Reptilien hätte vollzogen werden müssen, da dort die Möglichkeit der Unterstützung durch den Wasserdruck fehlt. In einem hypothetischen Übergangsstadium gäbe es Konflikte in den funktionalen Rollen der Muskulatur der Atmung und des Bewegungsapparats (Rieppel 2008, 349). Evolutionäre Szenarien der Schildkrötenentstehung, bei denen Details des mutmaßlichen Umbaus nicht bedacht werden, könnten daher fragwürdig sein.

Ontogenese als Modell für Phylogenese? Li et al. (2008) begründen die Interpretation von Odontochelys als Vorstufe zu vollgepanzerten Schildkröten unter anderem damit, dass man diese Gattung mit einem embryonalen Stadium heutiger Schildkröten vergleichen könne. Auch Nagashima et al. (2009, 196) bemerken, dass Odontochelys embryonalen modernen Schildkröten in mancher Hinsicht ähnlich sei und ein Vorfahrenstadium repräsentieren dürfte. Dagegen passen die Merkmale von Chinlechelys nicht zu ontogenetischen Befunden. Bei Chinlechelys sind Rippen und Osteodermen (=Hautverknöcherungen) nur lose verbunden, was evolutionstheoretisch als allmähliche Entstehung des Panzers durch Vergrößerung der Hautknochen und deren spätere Verschmelzung mit Rippen und Wirbeln gedeutet wird. Ontogenetisch entsteht der Panzer aber anders. Die Seiten- und Wirbelsäulenschilde bilden sich ontogenetisch nicht unabhängig von den Rippen und den Wirbeln (Gilbert et al. 2001; Joyce et al. 2009, 511), allerdings sprechen Analysen der Gewebe wiederum für eine getrennte Entstehung der später verschmolzenen Elemente.

Die Ontogenese eignet sich angesichts dieser divergierenden Befunde wie so oft nicht als Wegweiser für die stammesgeschichtliche Rekonstruktion. Joyce et al. (2009, 511) drücken das so aus: „Wir argumentieren daher, dass Daten von heutigen Formen alleine den Prozess, durch den der Schildkrötenpanzer entstand, nicht schlüssig aufklären können.“ Wie im Fall der Dinohand (Ullrich 2008) wirft der ontogenetische Befund mehr Fragen auf als er in die Lage versetzen würde, die Phylogenese der Schildkröten leichter zu verstehen. Denn es geht um einen dramatischen Bauplanwechsel, der tiefgreifend im Vergleich zu den nächsten Verwandten der Schildkröten ist. Während von Befürwortern des Evo-Devo-Ansatzes betont wird, dass die Ontogenese an sog. „constraints“ (Entwicklungszwänge) gebunden sei und diese weitere evolutive Entwicklungsmöglichkeiten kanalisieren, muss hier im Gegenteil angenommen werden, dass bisherige constraints weitgehend aufgehoben werden, da ontogenetisch bereits in einem sehr frühen Stadium die Weichen in Richtung Panzerbildung gestellt werden. Mit dem Begriff der „Emergenz“ (vgl. Emergenzhypothese sensu Rieppel) wird hier ein Ergebnis beschrieben, jedoch keine Erklärung geboten.

Es stellt sich abschließend die Frage nach der Deutung der vorgestellten und diskutierten Befunde in einem nicht-evolutionären Szenario. Dazu sollen einige wenige Hinweise gegeben werden, die als spekulativ gekennzeichnet werden müssen, aber Forschung anregen können.

Nichtevolutionäre Deutung der frühen Schildkrötenfossilien

Schnelle große Vielfalt. In der Obertrias sind unterschiedliche Schildkrötenfossilien bekannt (Abb. 392), die verschiedenen evolutionären Linien zugeordnet werden und sowohl land- als auch wasserlebende Formen beinhalteten. Ähnlich wie bei vielen anderen Tier- und Pflanzengruppen treten verschiedene Linien nebeneinander in enger zeitlicher Folge fossil in Erscheinung, darunter wasser- und landlebende Formen. Neben den als Übergangsformen interpretierbaren Gattungen Odontochelys und Chinlechelys treten fast zeitgleich voll entwickelte Schildkrötengattungen auf. Eine der stratigraphisch ältesten Gattungen, Proterochersis aus dem Unteren Stubensandstein Württembergs ist nach Wild (1998) deutlich „moderner“ als die jüngere Proganochelys, die neben einigen Primitivmerkmalen bereits einen gut ausgebildeten Panzer besitzt (Fraas 1913). Sie gehört wahrscheinlich zu den Halswender-Arten (Pleurodira) (Lucas et al. 2000, 294). Fossilien aus der Untergruppe der Halsberger (Cryptodira) sind ab dem Unterjura bekannt. Nach allen Hypothesen der Schildkrötenverwandtschaft sind die Cryptodira die Schwestergruppe zu den Pleurodira; es sollte also eine Cryptodira-Gattung geben, die so alt ist wie Proterochersis, auch wenn die älteste bisher bekannte Cryptodira-Gattung, Kayentachelys, aus dem Unterjura stammt (Lucas et al. 2000, 294; vgl. Gaffney et al. 1987), also viel jünger ist. Sowohl die Halsberger als auch die Halswender benötigen komplexe, koordinierte Änderungen der Halswirbel und der Muskeln (http://www.earthhistory.org.uk/transitional-fossils/origin-of-turtles/). Lucas et al. (2000) kommen zum Schluss, dass mindestens vier Schildkrötenlinien (Proganochelys, Australochelidae, Pleurodira und Cryptodira) im Revueltium (Stufe der Obertrias) existiert haben müssen (ebenso Lee 1994). Gaffney & Kitching (1994, 57) bezeichnen einige obertriassische Gattungen als lebende Fossilien zu ihrer Zeit.

Diese paläontologisch dokumentierte frühe Vielfalt kann nicht-evolutionär interpretiert werden, wenn eine ökologisch bedingte Fossilisation begründbar ist. Das heißt: Die verschiedenen Schildkrötenformen existierten bereits, traten aber erst dann fossil in Erscheinung, als ihre Lebensbedingungen in so großem Ausmaß verfügbar waren, dass sie sich in genügender Zahl vermehren und ausbreiten konnten. Zuvor lebten sie in geologisch nicht überlieferten Lebensräumen. Diesen Ansatz beschreibt Stephan (2002). Ein solches Szenario kann das Nebeneinander verschiedener Formen möglicherweise besser verständlich machen als ein evolutionäres, wonach ein allmähliches Divergieren eher zu erwarten wäre.

Schnelle weite geographische Verbreitung, kein Ausbreitungszentrum. Das Szenario des ökologisch bedingten Hervortretens aus geologisch zuvor nicht überlieferten Lebensräumen wird durch die schnelle weitweite Verbreitung der ältesten Schildkröten aus der Obertrias unterstützt. Schildkrötenfossilien der Obertrias wurden auf verschiedenen Kontinenten gefunden: in Grönland, Südamerika (Argentinien), Asien (Thailand, China), Europa (Deutschland) und Nordamerika (Lucas et al. 2000, Karl & Tichy 2000, 66; Joyce et al. 2009, Li et al. 2008, Pritchard 2008, 46; vgl. Abb. 393). Ein paläogeographisches Ausbreitungszentrum zeichnet sich nicht ab (Joyce et al. 2009, 510); evolutionstheoretisch wäre eher ein Ausbreitungszentrum zu erwarten.

Ein ökologisch bedingtes Hervortreten könnte besonders durch geologische Studien überprüft werden: Weisen die Schichten, in denen die Schildkrötenfossilien entdeckt wurden, offenkundige Kennzeichen einer schnellen Bildung auf? Wenn die fossil überlieferten stratigraphisch ältesten Fossilien auf Ausbreitung aus geologisch nicht überlieferten Lebensräumen zurückzuführen sind, lässt sich ein solches geologisches Szenario am besten mit einem kurzen Zeitrahmen von Jahren und Jahrzehnten vereinbaren. Das könnte anhand von Indizien der betreffenden geologischen Schichten überprüft werden.

Eine Herausforderung bleibt auch im ökologischen Ansatz die Erklärung des zeitlich gestaffelten Auftretens verschiedener Gattungen. Warum sind Formen, die am ehesten als Übergangsformen interpretierbar sind, unter den ältesten? Zu prüfen wäre in diesem Zusammenhang, ob die unterschiedlichen Gattungen auf eine Radiation eines oder weniger Grundtypen zurückgeführt werden könnten. Auch diese Frage eröffnet ein weites Forschungsfeld.

Zusammenfassung

Schildkröten haben den ungewöhnlichsten Bauplan unter den Wirbeltieren. Er ist so verschieden von anderen Tiergruppen, dass über die taxonomische (=die Ordnung der Lebewesen betreffend) Zuordnung keine eindeutige Aussage möglich ist. Nachdem morphologische (=gestaltliche) Merkmale eher Verwandtschaftsbeziehungen mit phylogenetisch (=stammesgeschichtlich) alten Gruppen unterstützten, wiesen neuere molekularbiologische Untersuchungen ab Ende der 1990er Jahre in eine neue Richtung, nämlich einer Verwandtschaft mit diapsiden Formen, die als abgeleitet gelten und als relativ jung eingestuft werden. Morphologische und molekulare Analysen passen nicht zusammen.

Über die Entstehung des hervorstechendsten Merkmals, den Panzer, werden unterschiedliche Hypothesen vertreten. Nach der Transformationshypothese entstand der Panzer allmählich aus Hautknochen durch Fusion mit den Rippen und Wirbelfortsätzen unter der Wirkung der natürlichen Selektion. Nach der Emergenzhypothese ist der Panzer dagegen zunächst unabhängig von Anpassungsprozessen durch Neuverschaltungen von Steuergenen und Entwicklungsmodulen, also durch Veränderungen in der ontogenetischen Entwicklung entstanden. Eine besondere Rolle spielt nach dieser Hypothese eine nur in der Ontogenese (=individuelle Entwicklung von der Befruchtung an) der Schildkröten vorkommende Aufwölbung aus Ektoderm und Mesoderm, die sich oberhalb der Extremitätenknospe in Längsrichtung auf der Körperflanke bildet, die Carapaxfalte („carapacial ridge, CR). Beiden Hypothesen stehen schwerwiegende Probleme entgegen.

In der Fossilüberlieferung erscheint der Schildkrötenbauplan ziemlich abrupt. Neuere Fossilfunde könnten die Lücken zu anderen Tiergruppen verringern. Die in den Jahren 2008 und 2009 neu beschriebenen Gattungen Odontochelys und  Chinlechelys werden im Rahmen der konkurrierenden Panzer-Entstehungshypothesen diskutiert. Diese beiden Gattungen besaßen Merkmale, aus denen Hinweise auf ihre hypothetische Evolution entnommen werden können. So besaß Odontochelys keinen verknöcherten Rückenpanzer, und der Panzer von Chinlechelys war sehr dünn und nur teilweise mit den Rippen verwachsen. Es ist aber in beiden Fällen nicht sicher, ob es sich dabei um phylogenetische Primitivmerkmale handelt. Odontochelys könnte auch eine spezialisierte wasserlebende Gattung gewesen sein. Und die fossilen Reste von Chinlechelys sind möglicherweise zu spärlich, um sichere Schlussfolgerungen zu erlauben.

Dank: Einige hilfreiche Hinweise verdanke ich Manfred Stephan und Dr. Henrik Ullrich.

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Autor: Reinhard Junker, 22.09.2011

 
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