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Evolution: Biologie |
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Experten: Atavismen |
InhaltIn diesem Artikel wird erklärt, was Atavismen sind und weshalb sie als Belege für Makroevolution betrachtet werden. Weiter wird gezeigt, weshalb Atavismen keine Beweise für Makroevolution darstellen, und erläutert, dass manche Atavismen auch als Hinweise auf polyvalente Grundtypen gelten können.
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Das Atavismus-ArgumentIndizien für Evolution werden auch aus der Teratologie gewonnen. Dabei handelt es sich um das Studium und die Lehre von den Missbildungen. Störungen in der individuellen Entwicklung können durch Mutationen, aber auch durch Unwelteinflüsse ausgelöst werden. Missbildungen gibt es in sehr großer Zahl, treten jedoch bei einzelnen Individuen sehr selten auf. Daher kommen als Atavismen gedeutete Missbildungen ebenfalls sehr selten vor. Manche Missbildungen weisen gewisse Ähnlichkeiten mit Strukturen mutmaßlicher Vorfahren der betreffenden Art auf. In diesen Fällen werden sie häufig als Atavismen bezeichnet. In dieser Bezeichnung steckt eine evolutionstheoretische Interpretation: „Atavismus" kommt vom lateinischen atavus = Urgroßvater, Urahn. Die betreffenden missgebildeten Strukturen sollen also an die Ausprägung bei einem stammesgeschichtlichen Vorfahren erinnern. Man spricht von „Rückschlägen" in stammesgeschichtlich früher verwirklichte Stadien. Bekannte atavistisch gedeutete Missbildungen beim Menschen sind Halsfisteln (s.u.), ein ungewöhnlich stark ausgebildetes Haarkleid, „Schwänzchen" in der Steißgegend ( Beispiele für Atavismen bei Tieren sind zusätzlich auftretende Zehen bei Pferden ( |
Bewertung und Kritik des Atavismus-ArgumentsWie die Rudimentären Organe ( Es fehlt jedoch ein unabhängiges Kriterium für die Erkennung einer Missbildung als Atavistismus. Dies führt zu theoriegeleiteter Argumentation. Missbildungen werden nämlich nur dann als Hinweise auf eine angenommene Stammesgeschichte gewertet (also als Atavismen interpretiert), wenn sie Ähnlichkeiten mit vermuteten Vorfahren des betreffenden Organismus aufweisen: „Im Unterschied zu echten Missbildungen im pathologisch-anatomischen Sinne verweisen sie auf phylogenetische Vorstufen" (Krumbiegel 1960, 20). „Echt" heißt hier offenbar: „nicht auf Stammesgeschichte verweisend". Konsequenterweise müssten jedoch alle Missbildungen als stammesgeschichtliche Rückschläge interpretiert werden, beispielsweise auch gegabelte Rippen, Hasenscharte, Sechsfingrigkeit, was jedoch im Rahmen der Evolutionslehre zu unsinnigen Schlussfolgerungen führen würde. Also muss die Evolutionstheorie vorgegeben werden, damit eine Interpretation eines Organs als Atavismus möglich ist. Daher sind Atavismen keine unabhängigen Belege für eine Stammesgeschichte. Mit den als Atavismen interpretierten Missbildungen wird somit inkonsequent argumentiert. Das Beispiel vierflügeliger Fruchtfliegen-Mutanten ( Missbildungen werden also nur sehr selektiv als Hinweise auf eine angenommene Stammesgeschichte gewertet (also als Atavismen interpretiert), wenn sie Ähnlichkeiten mit vermuteten Vorfahren des betreffenden Organismus aufweisen. Die Tatsache, dass einige wenige Missbildungen an andere Organismen (mutmaßliche Vorfahren der betrachteten Organismen) erinnern, ist nicht besonders bemerkenswert und überrascht aufgrund vieler gestaltlicher Ähnlichkeiten kaum. So berichtet Zwick (1976) von einer Reihe von Missbildungen bei Steinfliegen (Plecoptera), von denen er (nur) zwei Veränderungen an der Abdomenspitze als Atavismen wertet. Er meint dazu: „Einen Beweis für die Evolution liefern solche Fälle nicht, ihre Würdigung als Atavismen setzt die Grundannahme evolutiver Veränderungen voraus" (S. 221). Im Wesentlichen wird also mit dem Atavismus-Argument vergleichend-biologisch argumentiert, als mit dem Ähnlichkeits-Argument. Daraus können aber keine stichhaltigen Belege für Makroevolution gewonnen werden, wie im Artikel Steiner (1966) scheidet alle embryogenen Hemmungsbildungen als Atavismen aus (beim Menschen z. B. Halsfisteln, Schwanzbildungen, zweigeteilter Uterus u. a.), „da sie in der normalen Ausdifferenzierung gestörte Stadien der individuellen Ontogenese festhalten, welche mit den Merkmalen eines Vorfahren im adulten Zustand kaum identifiziert werden dürfen" (S. 323). Halsfisteln sind u.a. die Folge einer krankhaften Zerstörung der äußeren Halshaut und keine offen gebliebenen Kiemenspalten. Solche Missbildungen können also ohne Rückgriff auf eine Stammesgeschichte als Entwicklungsstörungen verstanden werden und erlauben nicht die Deutung als Atavismen. Man kann generell zeigen, dass den Atavismen wie allen Missbildungen bestimmte Störungen der Formbildung zugrundeliegen. Der Bezug auf die Stammesgeschichte erweist sich als unnötig und und kann daher fallengelassen werden. Der Ersatz eines Organs durch ein anderes an derselben Stelle des Körpers (Homeosis) wird – sofern evolutionstheoretisch passend – gelegentlich auch atavistisch interpretiert (s. u.; z. B. Flügel anstelle von Schwingkölbchen bei Drosophila oder ein ganzes Blatt anstelle eines Nebenblatts bei Erbsen). In solchen Fällen liegen sogenannte homeotische Mutationen regulatorischer Gene zugrunde (vgl. Der Botaniker Carlquist (1969, 360) hält Erkenntnisse aus der Teratologie (Studien von Missbildungen) für nicht nützlich für das Studium der Blütenevolution. Atavistische Interpretationen von Missbildungen seien eine besondere Form von Wunschdenken: Welche Ausprägung man auch immer als hypothetischen Vorläufer postuliere, man werde sie unter der großen Zahl von Missbildungen früher oder später finden. |
Erklärungen für das Auftreten von AtavismenAls Erklärung für Atavismen werden Rückmutationen bzw. Reaktivierungen sehr alter „schlafender Gene" vorgeschlagen. Solche „atavistische Gene" werden als unabhängig vom aktiven Genom betrachtet, d. h. sie gehören nicht zum aktiven DNA-Bestand einer Art, sondern sind funktionell schlafende oder „fossile" Gene. Solche „schlafenden Gene" konnten jedoch bisher nicht als atavistische Gene identifiziert werden. Ein theoretisches Argument spricht sehr stark gegen die Deutung, „schlafende" Gene könnten reaktiviert werden, jedenfalls dann, wenn die betreffenden Gene über Hunderttausende oder Millionen von Jahren stillgelegt sein sollen. Aufgrund der Kenntnisse über die Häufigkeit von Mutationen besteht keine Chance, dass ein stillgelegtes Gen so lange reaktivierbar bleibt (vgl. Hall 1984, 115). In der langen Zeit, in der keine selektive Bewertung erfolgt, werden Mutationen das Gen unwiderruflich funktionsunfähig machen. Man muss also bei mutmaßlichen Reaktivierungen annehmen, dass das betreffende Gen in einem anderen Zusammenhang aktuell doch gebraucht wird (Pleiotropie). Damit aber ist das Argument der Reaktivierung hinfällig; eine atavistische Deutung wäre dann nicht mehr zwingend. Innerhalb von Grundtypen ( Hall (1984, 118) kommt nach einer ausführlichen Besprechung vieler Fälle natürlicher oder experimentell induzierter Atavismen zum Schluss, dass nicht alle Atavismen auf Mutationen zurückzuführen sind, sondern auch durch Manipulation eines sich entwickelnden Systems erzeugt werden können. Es gebe eine Plastizität der Entwicklungsmöglichkeiten, die es ermögliche, dass ontogenetische Abfolgen relativ leicht geändert werden können. Blechschmidt (1985) weist darauf hin, dass beim Menschen Atavismen vielfach „Grenzfälle des Normalen" seien, d. h. es liegt auf der Ebene der Regulation morphogenetischer Prozesse ein Extremfall in der Variationsbreite der Entwicklungsmöglichkeiten vor. Beispiele. Betrachten wir als Beispiel für einen Atavismus zusätzlich auftretende Zehen bei Pferden ( Krallen an den Vogelflügeln müssen nicht zwingend als „Rückschlag" interpretiert werden, da die Vögel ja an den Zehen Krallen besitzen. Diese Struktur wird also an einer falschen Stelle ausgebildet, sie ist als Struktur demnach kein Atavismus, lediglich ihre Position kann unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen atavistisch gedeutet werden. Ullrich (2004) hat das berühmte Beispiel eines menschlicher „Schwanzes" ( Überzählige Brustwarzen, die gehäuft entlang der sog. „Milchleiste" vorkommen, sind nach Blechschmidt (1985) sog. „Grenzfälle des Normalen", da Warzen bevorzugt an Gewebeverdichtungen auftreten, und diese sind entlang der Milchleiste vergleichsweise wahrscheinlich. Sie können damit aus den ontogenetischen Bedingungen vollständig verstanden werden. Überzählige Warzen kommen seltener aber auch an anderen Stellen vor und können dann definitiv nicht als Atavismen gedeutet werden. Bei der Interpretation von Missbildungen als Atavismen gilt wie bei Rudimenten: Alle Deutungen sind voreilig, solange die zugrundeliegende genetische und entwicklungsphysiologische Situation und die wachstumsfunktionelle Bedeutung der normalen Bildungen nicht bekannt sind. Kleine Ursache – große Wirkung. Manche atavistisch erscheinende Bildungen können wie bereits erwähnt als Regulationsstörungen gedeutet werden und erfordern daher nicht die Annahme anders gestalteter Vorfahren. Dazu ein Beispiel: Schon vor über 250 Jahren wurde eine bemerkenswerte und in vielen Lehrbüchern und Museen dargestellte Mutation des Leinkrauts (Linaria vulgaris) vom Altmeister der Botanik, Carl von Linné, beschrieben: Es handelt sich um die sog. Peloria-Mutante, bei der die Blüten radiärsymmetrisch sind ( Ontogenetische Studien von Cubas et al. (1999) zeigten, dass die frühe Blütenentwicklung bei Wildform und Mutante identisch ist; Unterschiede treten jedoch auf, wenn die Staubblatt- und Kronblatt-Primordien (Anlagen) gebildet werden. Beim Wildtyp verlangsamt sich die Bildung des dorsalen (=nach oben hin gerichtet) Staubblatt-Primordiums, und die Primordien der dorsalen Kronblätter bilden eine andere Form. Genetische Untersuchungen zeigten, dass die Blockade eines einzigen Gens (Lcyc) für sämtliche Veränderungen der Mutante verantwortlich ist. Und zwar wird dieses Gen methyliert, d. h. ein Buchstabe dieses Gens wird mit einer chemischen Gruppe, der Methylgruppe, versehen. Dieses „sperrige" Anhängsel verhindert den Zutritt anderer Proteine zum Gen, die es sonst ablesen könnten. Das Gen wird dadurch unkenntlich gemacht. Diese Veränderung ist erblich. Man kann hier vermuten, dass ein Mechanismus vorliegt, der zur Flexibilität von Grundtypen beiträgt. Das Beispiel zeigt auch, dass die erstaunliche Veränderung der Blüte auf einer Blockade eines Gens beruht. „Kleine Ursache – große Wirkung" funktioniert wohl nur auf der Basis einer bereits fertigen Konstruktion. Die Annahme von Vorfahren mit radiärsymmetrischen Blüten ist zwar möglich, aber nicht zwingend und nicht erforderlich, um den Befund zu erklären. Auf einen Genfunktionsausfall ist auch die Bildung von grünen Kelchblättern anstelle von Kronblättern bei Rosen zurückzuführen (Lönnig 1994). Dieser Vorgang wurde oft als Atavismus interpretiert – eine Fehlinterpretation. Denn hier wird ein spätes Entwicklungsprogramm durch ein (ontogenetisch) früheres ersetzt – ein Vorgang, der nicht als Rückschlag interpetiert werden kann. |
Mikroevolutiv deutbare AtavismenIm mikroevolutiven Rahmen ( In vielen ähnlichen Fällen können atavistisch deutbare Bildungen auf Vorfahren innerhalb desselben Grundtyps zurückgeführt werden. Im Rahmen des Grundtypmodells kann mit polyvalenten Stammformen gerechnet werden, zu deren Repertoire die betreffende Struktur ursprünglich gehörte und in vielen Arten innerhalb des Grundtyps sekundär unterdrückt wurde. (Zur Polvalenz vgl. Artikel Atavismen könnten auch als Ausdruck verschiedener Entwicklungspotenzen angesehen werden. Man muss bei diesem Deutungsversuch jedoch plausibel machen, inwiefern diese Entwicklungspotenzen sinnvoll sein könnten. In diesem Sinne könnte das folgende Beispiel gedeutet werden: Prillinger (1986) berichtet von atavistisch gedeuteten, durch Inzucht entstandenen „Hefe-Stadien" bei Ständerpilzen (Homobasidiomyceten): Es wurden normalerweise nicht auftretende kokkale Stadien erzeugt, die Prillinger als Rückfall in eine ursprüngliche Organisationsstufe deutet. Außerdem wurde die Ausbildung resupinater Fruchtkörper beobachtet, die unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen ebenfalls als Atavismus angesehen werden kann, da solche Fruchtkörper bei den untersuchten Arten sonst nicht vorkommen. Man kann jedoch annehmen, dass den Organismen mehr Entwicklungspotenzen zu eigen sind, als normalerweise realisiert werden und die nur unter bestimmten Bedingungen ausgebildet werden. Damit ergibt sich jedoch die (schwierige) Frage nach dem Sinn dieser Entwicklungsmöglichkeiten. Da in solchen Fällen die Suche nach einer Funktion unverstandener Strukturen angeregt wird, ergeben sich fruchtbare Fragestellungen, die u.U. Wissenszuwachs ermöglichen. |
Offene FragenIn seltenen Fällen besitzen Wale und Delphine atavistische rudimentäre Hinterextremitäten ( Ogawa & Kamiya (1957) diskutieren dagegen die Möglichkeit eines Stehenbleibens auf einem frühen embryonalen Entwicklungsstadium (s. o.), schließen diese Möglichkeit jedoch für einen extremen Fall aus, bei dem die atavistischen Hinterextremitäten über einen Meter aus dem Körper des Tieres herausgeragt haben sollen. In diesem und anderen Fällen waren nicht nur Ober- und Unterschenkelknochen, sondern auch Mittelfußknochen ausgebildet. Im Falle eines Stehenbleibens auf einem frühen embryonalen Stadium als Ursache für die Ausbildung für Atavismen wäre ein Rückgriff auf stammesgeschichtliche Erklärung nicht erforderlich. Das Auftreten von Atavismen und von Rekapitulationen wären dann Spezialfälle des Konzepts der Heterochronie (=Verschiebung des zeitlichen Abalufs des Auftretens von Organen in der ontogenetischen Entwicklung). Trotzdem bleiben Fragen; zum Beispiel: Welches normalerweise schon ausgeprägte Programm könnte zu atavistischen Ohrmuscheln bei normalerweise ohrenlosen Robben führen? Hier scheinen Strukturelemente ausgebildet zu sein, die sonst im Organismus nicht in ähnlicher Form vorkommen. Für die Schöpfungsforschung ergibt sich hier als Aufgabe, den Nachweis zu erbringen, dass auf der Basis gegenwärtig benötigter Entwicklungsvorgänge das Auftreten atavistischer Strukturen verständlich gemacht werden kann. Eine phylogenetische Deutung mag dann immer noch möglich sein, wäre dann aber nicht mehr notwendig. |