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Evolution: Biologie

Experten: Grundsätzliches zu Wahrscheinlichkeitsrechnungen

Inhalt

In diesem Artikel wird gezeigt, welche evolutionären Randbedingungen berücksichtigt werden müssen, um Wahrscheinlichkeiten für die Entstehung biologischer Konstruktionen abschätzen zu können. Biologische Sys-
teme und evolutionäre Prozesse sind so kompliziert, dass Wahrscheinlichkeitsabschätzungen für das Auftre-
ten neuer Strukturen nur unter Vorbehalten möglich sind.

Ein einfacher Vergleich und eine einfache Rechnung

Erster Einwand: Der Selektionsfaktor

Zweiter Einwand: In der Evolution mussten keine bestimmten Strukturen entstehen

Schlussfolgerungen

Ein einfacher Vergleich und eine einfache Rechnung

In der Auseinandersetzung um Schöpfung und Evolution wird häufig mit Wahrscheinlichkeiten evolutionärer Vorgänge argumentiert – sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern der Evolutionslehre. Oft werden dabei Beispiele wie die folgenden als scheinbar schlagendes Argument gegen Evolution ins Feld geführt:

Eine Affenhorde hackt auf einer Schreibmaschine herum, in der ein Blatt Papier eingespannt ist. Wie wahr-
scheinlich ist es, dass dabei zufällig ein schönes Gedicht herauskommt? Oder: Wie wahrscheinlich ist es, dass bei der Explosion einer Druckerei aus den Einzelteilen zufällig ein komplettes Buch entsteht?

Klar, jeder wird sofort einräumen, dass die Wahrscheinlichkeit Null ist; ein solcher Vorgang wird nicht ablau-
fen. Nun sind die Lebewesen noch viel komplizierter als ein Gedicht oder ein ganzes Buch, wie viel weniger werden also Lebewesen durch Zufall entstehen.

Unwahrscheinlichkeit in Zahlen. Wenn man weiß, wie viele unabhängigen Schritte durchlaufen werden müssen, bis eine sinnvolle Struktur (hier das Gedicht bzw. das Buch) entstanden ist, kann man die Unwahr-
scheinlichkeit sogar zahlenmäßig auf einfache Weise berechnen. Dies wurde oft bei molekularen Strukturen durchgeführt, und zwar z. B. bei Proteinen. Proteine sind Makromoleküle, die für den Bau und den Stoffwech-
sel der Lebewesen von überragender Bedeutung sind. Sie sind wie Ketten aus vielen Einzelteilen (Aminosäu-
ren) aufgebaut. Die Zahl der Kettenglieder bewegt sich dabei meist zwischen ca. 50 bis einige hundert. Die in Lebewesen vorkommenden Proteine werden aus 20 verschiedenen Aminosäuren zusammengesetzt. Für jedes Kettenglied gibt es also 20 verschiedene Möglichkeiten.

Nehmen wir an, ein Protein bestehe aus 100 Aminosäuren. Die Wahrscheinlichkeit für eine ganz bestimmte vorgegebene Folge von 100 Aminosäuren beträgt dann 1:20100, das ist umgerechnet eine Wahrscheinlichkeit von 10–130. Eine solche minimale Wahrscheinlichkeit ist unvorstellbar klein.

Kritik im Überblick. Das auf den ersten Blick schlagende Argument wird von Kritikern aber zurückgewiesen – aus mehreren Gründen, und teilweise zurecht. Auf die zwei wichtigsten Kritikpunkte soll im folgenden eingegangen werden.

Die Kritiker haken nicht bei den Zahlen ein, sondern bei den zugrundegelegten Randbedingungen. Die grund-
sätzlich berechtigten Gegenargumente lauten kurzgefasst:

  • Die Organe der Lebewesen entstanden nicht auf einen Schlag (wie im obigen Vergleich das Buch in der ex-
    plodierenden Druckerei), sondern schrittweise unter Mitwirkung der Selektion (Auslese). Dies wird in den Vergleichen mit der Druckerei und der Affenhorde nicht berücksichtigt.
  • Es mussten gar keine bestimmten Strukturen entstehen. Die genannten Wahrscheinlichkeitsüberlegungen bzw. -rechnungen sind Betrachtungen im Nachhinein, die bezüglich der Evolutionsgeschichte unrealistisch sind.

Erster Einwand: Der Selektionsfaktor

Die beliebten Beispiele von der Affenhorde und der Druckerei sind als evolutionskritische Argumente in der einfachen Form ungeeignet, weil sie nicht die Randbedingungen zugrundelegen, nach denen Evolution ablaufen soll. Im Rahmen der Evolutionslehre wird nicht behauptet, dass gleichsam auf einen Schlag aus einfachsten Vorstufen sofort eine sehr komplexe Struktur entstehen soll oder in der Vergangenheit entstanden sei. Um auf das Gedicht der Affenhorde zurückzukommen: Der Evolutionstheoretiker wäre schon sehr zufrieden, wenn die Affen das Wort „Frühling" zuwege brächten. Sie nehmen dann das Blatt, auf dem „Frühling" steht, legen es in einen Kopierer und stellen einige Tausend Kopien her. (In der Natur: Ein Lebewesen mit einer positiven Eigenschaft vermehrt sich, so dass auch alle Nachkommen diese Eigenschaft haben.)

Und nun werden viele tausend Blätter mit dem Wort „Frühling" in ebensoviele Schreibmaschinen einge-
spannt. Die Affenhorde macht sich wieder an die Arbeit. Und siehe da – irgendwo taucht nach „Frühling" das Wort „lässt" auf. Dieses Blatt wird wieder vervielfältigt usw. Und so kommt nach einigen Schritten der Satz
„Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte" heraus – wir haben den ersten Teil des ge-
suchten Gedichtes. Und so geht es dann weiter.

Damit ist aber das evolutionskritische Argument nicht entkräftet. Vielmehr lehrt der berechtigte Einwand mit der Selektion, dass abgeklärt werden muss, ob der Übergang zu einer neuen Struktur in selektionsposi-
tive Schritte unterteilt werden kann.
In unserem Gedichtsbeispiel sieht das so aus: Wir brauchen das Wort „Frühling" oder wenigstens „Früh", um eine sinnvolle Stufe zu haben. „Frü" wäre zu wenig und wäre nicht selektierbar (selektionspositiv). Oder beim nächsten Schritt: „Frühling läss" ist noch nicht sinnvoll; erst wenn „Frühling lässt" erreicht ist, kann die Selektion wieder angreifen.

Es geht also im evolutionskritischen Argument an dieser Stelle darum zu zeigen, dass in der mutmaßlichen Evolutionsgeschichte die einzelnen Schritte von einer sinnvollen Struktur zu einer anderen so groß sind, dass sie durch Zufallsmutation (=erbliche Veränderung) und Selektion (=natürliche Auslese) (und ggf. andere Evolutionsfaktoren) nicht überbrückbar sind. Siegfried Scherer hat hierfür den Begriff „Basisfunktionszustand" eingeführt (Scherer 1983; vgl. Junker & Scherer 2001, 128):

Zwei Basisfunktionszustände sind dadurch definiert, dass der postulierte evolutive Übergang zwischen ihnen nicht mehr in weitere selektionspositive Zwischenstufen unterteilt werden kann.

Das eigentliche Argument lautet also: Organe oder Bauteile von Lebewesen sind sehr kompliziert und funk-
tionieren nur, wenn alle Einzelteile ausgebildet sind; unfertige Organe können dagegen selektiv nicht ausge-
lesen werden. Der Übergang von einer selektierbaren Stufe zur nächsten (von einem Basisfunktionszustand zum nächsten) erfordert so viele unabhängige Einzelschritte, dass er durch Zufallsmutation und Selektion nicht überbrückt werden kann. Behe („Darwin’s Black Box", 1996) hat für solche Verhältnisse den Begriff der „irreduziblen Komplexität" geprägt. Entscheidend ist also, ob und wie irreduzible Komplexität nachge-
wiesen oder wenigstens plausibel gemacht werden kann.
Im Artikel Beispiel Bakterienmotor" wird gezeigt, wie man hierzu argumentativ vorgehen kann.

Außerdem muss abgeschätzt werden, wie viele unabhängige Schritte erforderlich sind, um von einer selek-
tierbaren Stufe zu einer anderen zu gelangen. Die eindeutige Klärung dieser Fragen steht aus; sie ist außerordentlich schwierig und anspruchsvoll. So einleuchtend das evolutionskritische Argument intuitiv ist, so schwierig scheint es empirisch beweisbar zu sein.

Umgekehrt kann man sagen: Der Kritiker, der das Wahrscheinlichkeitsargument entkräften will, muss also zeigen, wie der Weg zu einem neuen Organ so kleinschrittig erfolgen kann, dass die einzelnen Schritte durch das Wirken von Zufallsmutation und Selektion überbrückt werden können. Nach heutiger Kenntnislage sind bereits drei unabhängige Mutationsschritte ein ernsthaftes evolutionstheoretisches Problem; spätestens bei 4-5 gleichzeitig erforderlichen Schritten muss derzeit eingeräumt werden, dass die bekannten Evolutionsfak-
toren einen solchen Sprung nicht erklären können (Scherer 1983). Auch diese Frage kann aber nicht als end-
gültig geklärt gelten. Die Aussagekraft von Wahrscheinlichkeitsberechnungen hängt also von der Plausi-
bilität der zugrundegelegten Randbedingungen ab.
Der entscheidende Sachverhalt, über den diskutiert und Rechenschaft abgelegt werden muss, sind die Randbedingungen, die in Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein-
gehen.

Ein großer Haken. Das obige Beispiel hat allerdings noch einen großen Haken: Der Satz aus dem bekannten Mörike-Gedicht macht nämlich nur dann einen Sinn, wenn ihm ein Sinn gegeben wurde. Die Buchstabenfolge für sich ist für jeden, der die deutsche Sprache nicht kennt, noch sinnlos. Woher der Bedeutungsaspekt kommt, soll hier zugunsten der Evolutionslehre ausgeblendet werden, obwohl diese Frage von zentraler Bedeutung ist. Das Beispiel soll also nur verdeutlichen, dass man sich vergewissern muss, ob ein Übergang von einer sinnvollen Stufe zur nächsten nicht mehr verkürzbar ist.

Zweiter Einwand: In der Evolution mussten keine bestimmten Strukturen entstehen

Der zweite Einwand lautet beispielhaft: Ein bestimmtes Protein muss nicht eine ganz bestimmte Aminosäu-
renabfolge haben, damit es seine Funktion ausübt. Das heißt für unser oben genanntes Beispiel eines Pro-
teins aus 100 Aminosäuren: Von den insgesamt: 10130 Möglichkeiten der Bausteinabfolgen ist nicht nur eine einzige funktionsfähig, sondern es sind sehr viele. „Die Unwahrscheinlichkeit jeder einzelnen Konfiguration wird durch eine immens große Zahl an alternativen (potentiellen) Konfigurationsmöglichkeiten aufgewo-
gen" (M. Neukamm in einem Beitrag über evolutionskritische Wahrscheinlichkeitsrechungen auf seiner Homepage (Stand: Okt. 2003).

Aber: Sicher ist auch, dass bei weitem nicht alle funktionsfähig sind. Wie viele der 10130 Möglichkeiten tat-
sächlich funktionsfähig sind, kann derzeit vermutlich nur vage abgeschätzt werden, daher muss die evolu-
tionskritische Argumentation anders vorgehen: Es ist empirisch begründbar, dass der Übergang von einem Protein mit einer bestimmten Funktion zu einem anderen mit neuer Funktion ein Mindestmaß an Verände-
rungen (Aminosäureaustauschen) benötigt. Mindestens zehn Veränderungen sind dabei nach derzeitiger Kenntnis noch tief gegriffen. Diese Zahl kann wahrscheinlichkeitstheoretischen Abschätzungen zugrunde-
gelegt werden.

Ein Protein und ein Bier. Thomas Waschke erläutert auf seiner Homepage (Stand: Okt. 2003) das Gegen-
argument wie folgt: „Ich sitze in der Kneipe und habe ein Glas Bier vor mir. Es steht an einer bestimmten Stelle vor mir auf dem Tisch, der Bierfilz liegt in einem bestimmten Winkel, das Bier steht ganz knapp über dem Eichstrich, die Schaumkrone hat eine interessante Form. Am Stiel sehe ich die Pilsblume, sie ist etwas nass geworden, die Enden klaffen auseinander. Auf das Bier habe ich genau 2 Minuten und 30 Sekunden gewartet. Wie wahrscheinlich ist dieses Ereignis?"

Dass genau diese Konstellation auftritt, ist natürlich extrem unwahrscheinlich. Waschke schreibt weiter: „... mein Denkfehler war, dass ich berechnen wollte, wie wahrscheinlich es ist, ganz genau ein bestimmtes Glas Bier zu bekommen! Aber ich wollte ja nicht genau dieses Bier, mit genau dem Füllstand, mit genau der Blume" usw., „sondern nur irgendein Bier. Und dann sieht die Berechnung der Wahrscheinlichkeit ganz an-
ders aus." Das leuchtet ein.

Dieser Vergleich wird auf das Leben angewendet: Üblicherweise werde „die Wahrscheinlichkeit ‘berechnet’, ein bestimmtes Molekül, das heute in Zellen vorkommt, abiotisch, durch Zufallsprozesse zu erzeugen. ... Vom Standpunkt der Evolution aus gesehen muss nur realistisch gefordert werden können, dass abiotisch irgend-
welche Moleküle
entstanden sind, die bestimmte Eigenschaften aufwiesen. Welche speziellen Moleküle das waren, ob das heutige Leben diese noch verwendet und so weiter, sind vollkommen offene Fragen."

Ein treffender Vergleich? Waschke vergleicht also das evolutionäre Problem, irgendein funktionsfähiges Protein zu erhalten, mit dem „Problem", in einer Kneipe irgendein mit Bier gefülltes Glas zu erhalten. Diese beiden „Probleme" sind aber in keiner Weise vergleichbar. Das „Problem" mit dem Bier ist unter den gege-
benen Randbedingungen völlig trivial, die Wahrscheinlichkeit, dass das Ereignis eintritt, ist fast 1, also so gut wie sicher. Es kann allenfalls sein, dass z. B. die Kellnerin mit dem Bier ausrutscht und der Gast daher leer ausgeht. Beim Problem, irgendein funktionsfähiges Protein, kann man dagegen eine Reihe von Minimalbedin-
gungen angeben, die auch gelten, wenn man keinerlei Vorgaben bezüglich der zu erreichenden Sequenz oder Funktion macht. Klar ist z. B., dass eine Mindestkettenlänge benötigt wird. Und die Frage, ob diese experi-
mentell unter präbiotischen Bedingungen (also ohne Vorgabe von Leben wie in der gedachten „Ursuppe") erreicht werden kann, kann auch mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen angegangen werden. Das Vergleichsbeispiel von T. Waschke verkleinert das eigentlich zu lösende Problem gewaltig. Auf diese Weise wird es also nicht gelöst.

Es reicht zudem nicht, dass die Moleküle „bestimmte Eigenschaften" aufweisen. Diese „bestimmten Eigen-
schaften" müssen konkretisiert werden: Die zu bildenden Moleküle müssen biologische Funktionen ausüben können; das ist eine sehr weit gehende Forderung. Im Vergleich von Waschke: Es spielt beim Bier überhaupt keine Rolle, wie Füllstand, Schaumkrone, übergelaufene Tropfen etc. beschaffen ist. Alle denkbaren Varian-
ten sind ein Treffer. Bei unserem Protein kann man das gerade nicht sagen: Dort sind bei weitem nicht alle Konstellationen (die Aminosäure-Abfolgen) ein Treffer, sondern nur der kleine Bruchteil, der eine biologische Funktion ausüben kann. Der Vergleich mit dem Bierglas ist also irreführend.

Ähnliche Vergleiche. Martin Neukamm bringt auf seiner Homepage (Stand: Okt. 2003) in einer Anmerkung seines Artikels über Wahrscheinlichkeitsrechnungen einen Vergleich mit den Splittern eines vom Dach her-
untergefallenen Ziegels. Würde man vor dem Fall voraussagen, wie nachher die einzelnen Splitter aussehen und in welcher Lage sie auf dem Boden liegen werden, würde diese Vorhersage nicht eintreffen. Die Wahr-
scheinlichkeit wäre Null. Dennoch ergibt sich immer irgendeine Konstellation, wenn der Ziegel auf dem Boden zersplittert. Das Ereignis „Der Ziegel zersplittert" tritt mit Sicherheit ein (Wahrscheinlichkeit 1). Die Unwahr-
scheinlichkeit tritt erst ein, wenn man im Nachhinein überlegt, wie wahrscheinlich es war, daß eine bestimmte Konstellation eintritt. So sei es auch bei den Lebewesen: Im Nachhinein ist das Auftreten bestimmter kom-
plexer Organe beliebig unwahrscheinlich, aber es mußten ja nicht gerade diese bestimmten Organe ent-
stehen, es hätten ja auch ganz andere sein können.

Hier wird aber derselbe Fehler gemacht wie beim Bierglas-Vergleich. Denn bei unserem Protein geht es nicht um irgendeine Bausteinabfolge, sondern es sind nur solche akzeptabel, die eine sinnvolle Funktion des Pro-
teins ermöglichen.

Schlussfolgerungen

Will man die Wahrscheinlichkeit abschätzen, mit der ein evolutionärer Vorgang ablaufen könnte, muss man folgendes klären:

  • Ist der Übergang von einem Zustand zu einem anderen irreduzibel? (d. h.: nicht mehr in selektionspositive Zwischenstufen aufteilbar?)
  • Wie könnte die letzte Vorstufe einer heute beobachtbaren Struktur eines Lebewesens ausgesehen haben? (Wie war der vorherige Basisfunktionszustand beschaffen?)
  • Kann eine Minimalanzahl von Änderungsschritten abgeschätzt werden, die unabhängig auftreten müssen, um von der letzten Vorstufe zur heute realisierten Struktur zu gelangen?

Dies soll im Artikel über den Bakterienmotor von Escherichia coli durchgeführt werden.


Autor: Reinhard Junker, 01.01.2004

 
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