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19.04.06  Tiktaalik – ein erstklassiges Bindeglied?

Ein neues Bindeglied schickt sich an, Berühmtheit zu erlangen – Tiktaalik roseae, ein Fisch mit einigen Merkmalen, die typisch für Vierbeiner (Tetrapoden) sind. Anfang April wurde diese neue Fischgattung in zwei ausführlichen Artikeln in Nature beschrieben (Daeschler et al. 2006, Shubin et al. 2006). Überreste mehrerer Exemplare wurden in der kanadischen Arktis auf der Insel Ellesmere gefunden; geologisch gehören die Fundschichten zum untersten Oberdevon (Unterfrasne). Erhalten sind Schädel, Halsbereich, Schultergürtel, Brustflossen, Rippen und ein größerer Teil der Wirbelsäule. Die Tiere waren ca. 1,2-2,7 m groß, hatten einen flachen Körper und einen krokodilähnlichen Kopf und waren mit ihren scharfen Zähnen vermutlich gefährliche Räuber. Erik Ahlberg und Jennifer Clack, zwei ausgewiesene Spezialisten für frühe Tetrapoden, halten es für möglich, dass der neue Fund eine ähnliche Bedeutung erlangen könnte wie der berühmte „Urvogel“ Archaeopteryx (Ahlberg & Clack 2006, 747), und Neil Shubin kreierte anlässlich dieses Fundes den Begriff „fishopod“. Der Gattungsname Tiktaalik entstammt der Sprache der Inuit (Eskimos) und bedeutet „großer Fisch aus seichtem Gewässer“ in Anlehnung an den mutmaßlichen Lebensraum (s. u.); den Artnamen roseae verdankt der Fund einem anonymen Sponsor.

Was macht diesen Fund so interessant? Tiktaalik weist eine ausgeprägte Kombination aus eindeutig fischtypischen Merkmalen und typischen Tetrapodenmerkmalen auf. Fischartig sind die großen Kiemenhöhlen, die ausgeprägten Flossenstrahlen, die Schuppenhaut, der Unterkiefer und der Gaumen. Dagegen sind das verkürzte Schädeldach, der flache Schädel mit nach oben gerichteten Augen, die Ohrregion, die Beweglichkeit der Halsregion, das Fehlen von Kiemendeckeln, der relativ kräftige Brustkorb mit überlappenden Rippen, der flache Körperbau und der Besitz eines Handgelenks Merkmale, die eher zu Tetrapoden hinweisen. Die Forscher schließen aus der Anatomie der Brustflossen, dass sie ähnlich gebeugt und gestreckt werden konnten wie die Gliedmaßen der Landwirbeltiere. Damit war wahrscheinlich ein Kriechen auf dem Grund des Gewässers möglich, vermutlich auch ein Sich-Hochstemmen im Uferbereich und nach Meinung der Wissenschaftler auch kurze Landgänge. Kein Zweifel: Tiktaalik besitzt ein Merkmalsmosaik, das gut in einen Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern passt – hier geht ein Punkt an die Evolutionstheorie.

Was nicht so gut passt. Dass Merkmale von Tiktaalik besonders hervorgehoben werden, die als „Übergangsmerkmale“ gedeutet werden können, ist legitim. Dennoch zeigt die Brustflosse insgesamt doch eher einen fischartigen Charakter (Ahlberg & Clack 2006, 748). Ein Vergleich mit anderen Formen aus dem Übergangsbereich Fische – Vierbeiner macht dies deutlich. Bisher galt Panderichthys (Abb. 9) als tetrapodenähnlichster Fisch; dessen Flossen sind aber deutlich anders gebaut, ihrerseits aber nicht gut als Vorläufer für Tetrapodenextremitäten geeignet. Die Unterschiede zwischen Tiktaalik und gefingerten Gattungen wie Acanthostega sind erheblich (Abb. 261). Ahlberg & Clack (2006, 748) weisen darauf hin, dass der Erwerb von Fingern, von Tiktaalik ausgehend, eine erhebliche Umorganisation („developmental repatterning“) erfordern würde. Der achtfingrige oberdevonische Tetrapode Acanthostega (Abb. 14) war höchstwahrscheinlich ausschließlich wasserlebend; seine Extremitäten waren relativ unbeweglich. Insgesamt eignet sich diese Gattung daher nicht als vermittelnde Form zwischen Tiktaalik und landlebenden Tetrapoden. Man kann es so sagen: Tiktaalik hatte deutlich andere „Übergangsmerkmale“ auf dem Weg zum Landleben als Acanthostega. Der Weg aufs Land konnte nicht über beide Formen zugleich führen, es sei denn, er wurde mindestens zweimal unabhängig durchlaufen, womit dann aber die Vierbeinigkeit nicht mehr als Schlüsselmerkmal (d. h. als Hinweis auf gemeinsame Vorfahren) gelten könnte, sondern konvergent entstanden wäre. Schon länger ist klar, dass auch das berühmte Ichthyostega (Abb. 12), vor noch nicht langer Zeit die Ikone für den Übergang vom Wasser- zum Landleben, deutlich von einer vermittelnden Position entfernt ist (Clack 2002, Ahlberg et al. 2005; zusammenfassend Junker 2004, 2006).

Nicht nur der Bau der Flossen, sondern auch der Schädelbau passt insgesamt nicht in eine evolutive Reihe von tetrapodenähnlichen Fischen hin zu frühen Tetrapoden. Auch in dieser Hinsicht würde sich Acanthostega auf einer anderen „Schiene“ bewegen, wenn man die relevanten fossilen Gattungen in evolutionäre Linien einfügen wollte (Abb. 262).

Lebensraum. Die Deutung von Tiktaalik als evolutionäre Übergangsform muss mit einigen Unbekannten leben, da die hinteren Teile des Tieres fossil nicht überliefert sind. Über den Bau des Beckens, der Hinterextremitäten und des Schwanzes verraten die Funde leider nichts. Daher kann auch die Lebensweise nicht sicher rekonstruiert werden. (Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass lange gemutmaßt wurde, dass die Quastenflosser ihre kräftigen Flossen zur Bewegung auf dem Grund genutzt haben könnten, bis Filmaufnahmen des „lebenden Fossils“ Latimeria diese Vermutung widerlegten.) Wie alle anderen oberdevonischen Vierbeiner und vierbeinerähnlichen Gattungen ist auch Tiktaalik zusammen mit Fischen eingebettet worden (Daeschler et al. 2006, 758). Vermutlich war er ein Beutelauerer im Uferbereich; die lange Schnauze war zum Schnappen nach Beute geeignet, und die beweglichen Extremitäten und der relativ bewegliche Halsbereich erlaubten in diesem Lebensraum eine gute Beweglichkeit. Junker (2004) diskutiert für andere Gattungen, dass es in Uferbereichen eine Vielfalt ökologischer Nischen gegeben haben könnte, „darunter möglicherweise auch (damalige) Lebensräume, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Dieser Vielfalt könnte eine anatomische Formenfülle mit unterschiedlichen Konstruktions-Mosaiken des Kiemenapparats, der Extremitäten, der Wirbelsäule, des Schwanzes usw. entsprechen.“ In diesem Sinne kann möglicherweise auch Tiktaalik interpretiert werden, als Form, die für einen bestimmten (nicht mehr genau rekonstruierbaren Lebensraum) optimal konstruiert war.

Übergang bisher schlecht belegt? Etwas verwundert stellt man fest, dass Autoren und Kommentatoren Tiktaalik als langgesuchtes Bindeglied zwischen wasser- und landlebenden Wirbeltieren begrüßen. Hieß es nicht schon seit Jahrzehnten, die wesentlichen fossilen Belege für diesen Übergang seien gefunden worden? Nun aber schreiben Ahlberg & Clack, bis vor kurzem sei die morphologische Lücke „frustrierend weit“ geblieben – trotz Panderichthys, Acanthostega und Ichthyostega und anderen overdevonischen Tetrapoden-Gattungen. Ähnlich meinen auch Daeschler et al. (2006, 757), dass die Verwandtschaft zwischen Tetrapoden und Fleischflossern (Sarcopterygier) zwar gut begründet, der Ursprung der wichtigen Tetrapodenmerkmale jedoch in Dunkeln verblieben sei. Und Pennisi (2006) stellt in ihrem Kommentar in Science fest, dass die bislang bekannten Fossilien entweder vornehmlich fischartig oder tetrapodenartig waren statt wirklich intermediär zu sein. Offenbar erlaubt erst die verbesserte Datenlage, den bisherigen Stand des Wissens weniger geschönt darzustellen.

Schlussfolgerungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Tiktaalik das Spektrum von Fischen mit tetrapodenartigen Merkmalen erweitert und in diesem Sinne einerseits einen Baustein für evolutionäre Übergangshypothesen darstellt. Die morphologische Lücke zwischen manchen Formen wird mit dem neuen Fund verkleinert. Andererseits wird nicht die Lücke zwischen den bisher nächststehenden fossilen Gattungen verkleinert (das wäre zwischen Panderichthys und Acanthostega), sondern im Übergangsbereich Wasser – Land eine neue Mosaikform hinzugefügt. Das Merkmalsmosaik von Tiktaalik passt gut zu einem im Uferbereich lauernden Räuber. Ahlberg & Clack (2006, 748) schließen ihren Kommentar mit der Feststellung, dass fast nichts über den Schritt zwischen Tiktaalik und und den frühesten Tetrapoden bekannt sei. Bei diesem Übergang habe die Anatomie die „dramatischsten Änderungen“ erfahren. Außerdem weisen sie auf die markante Lücke zu den karbonischen landlebenden Tetrapoden hin (dazu siehe zusammenfassend Junker 2005).

Es sei noch angemerkt, dass die in Junker (2005) anhand der Fachliteratur zusammengestellten evolutionstheoretischen Probleme mit dem neuen Fund nicht verkleinert werden. Interessierte Leser seien auf diese Publikation oder auf Clack (2002) verwiesen.

Ein ausführlicherer Artikel ist für die Herbstausgabe von Studium Integrale Journal (http://www.wort-und-wissen.de/sij) geplant.

Literatur

Ahlberg PE & Clack JA (2006) A firm step from water to land. Nature 440, 747-749.

Ahlberg PE, Clack JA & Blom H (2005) The axial skeleton of the Devonian tetrapod Ichthyostega. Nature 437, 137-140.

Clack JA (2002) Gaining Ground. The origin and evolution of Tetrapods. Bloomington and Indianapolis.

Daeschler EB, Shubin NH & Jenkins FA (2006) A Devonian tetrapod-like fish and the evolution of the tetrapod body plan. Nature 440, 757-763.

Junker R (2004) Vom Fisch zum Vierbeiner – eine neue Sicht zu einem berühmten Übergang. Teil 2: Ichthyostega, Acanthostega und andere Tetrapoden des höheren Oberdevons. Stud. Int. J. 11, 59-66.

Junker R (2005) Vom Fisch zum Vierbeiner – eine neue Sicht zu einem berühmten Übergang. Teil 3: Tetrapoden des Unterkarbons, unklare Selektionsdrücke und evolutionstheoretische Probleme. Stud. Int. J. 12, 11-17. (Siehe auch Entstehung der Vierbeiner)

Junker R (2006) Neue Rekonstruktion bestätigt: Ichthyostega ist kein Bindeglied. Stud. Int. J. 13, 35-36 (im Druck).

Pennisi E (2006) Fossil shows an early fish (almost) out of water. Science 312, 33.

Shubin NH, Daeschler EB & Jenkins FA (2006) The pectoral fin of Tiktaalik roseae and the origin of the tetrapod limb. Nature 440, 764-771.

Autor dieser News: Reinhard Junker

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