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11.04.24  Anpassungen wiederholen sich und sind vorhersagbar

Eines der wichtigsten evolutionsbiologischen Experimente unserer Zeit stammt von Richard Lenski. Es ist so bedeutsam, weil molekulargenetische Veränderungen in Bakterien über lange Zeiträume hinweg untersucht werden. In einer neuen Studie wurde die biologische Fitness von Bakterien gemessen, die sich über 50.000 Generationen in verschiedenen Linien fortgepflanzt haben, und die Art der beteiligten Mutationen wurde analysiert. Es stellte sich heraus, dass vorteilhafte Mutationen im Laufe der Zeit rasch abnahmen, wobei in allen Linien ähnliche Veränderungen der Fitness parallel auftraten. Dies legt nahe, dass sie vorhersehbar sind. Darüber hinaus kam es häufig zum Verlust von nicht essentiellen Genen, was auf Redundanz in den bakteriellen genetischen Netzwerken hindeutet.

Im Jahr 1988 startete Richard Lenski, ein Evolutionsbiologe der Universität von Michigan (USA) ein Experiment mit der Erwartung, Darwin´sche Evolution bei Bakterien demonstrieren zu können. Er ging von einer Reinkultur der normalen Darmbakterien Escherichia coli (kurz: E. coli) aus und ließ sie in einem Erlenmeyer-Kolben heranwachsen. Er ernährte sie mit einer minimalen Nahrung, die nur die wichtigsten Substanzen für das Bakterienwachstum enthielt. Von allen möglichen Zuckern enthielt das Wachstumsmedium nur ein wenig Glukose, das die Bakterien als Baustein für ihre Zellwände und als Energiequelle benötigen. Außerdem wurde ein Überangebot an Citrat, auch Zitronensäure genannt, beigemischt, das die Bakterien unter anaeroben (sauerstofffreien), nicht aber unter aeroben Bedingungen verwerten können. Das bedeutet, dass die Bakterien Citrat nur nutzen können, wenn kein Sauerstoff vorhanden ist, nicht aber in Gegenwart von Sauerstoff.

Im Juni 2008 berichtete Lenski, dass sich nach 31.500 Generationen in einem der zwölf Parallelexperimente eine Population entwickelt hatte, die Citrat als Kohlenstoffquelle verwenden konnte (Blount et al. 2008). Lenski präsentierte das Citrat-verarbeitende Bakterium als eine evolutive Schlüssel-Innovation – also als wichtige Neuentwicklung. Der Ursprung des angepassten Citrat-Metabolismus liegt in einer DNA-Region mit einem Gen, citT genannt, das für ein Transportprotein codiert, welches Citrat in die Zelle schleust. Dieses Gen wird normalerweise von einem eigenen genetischen Schalter reguliert, der aber nur in einem anaeroben Umfeld aktiviert wird. In dem Citrat-verarbeitenden Stamm wurde jedoch das citT-Gen mit einem Schalter fusioniert, der gewöhnlich unter aeroben Bedingungen aktiv ist, was es den Bakterien ermöglichte, diese alternative Energiequelle auch bei Anwesenheit von Sauerstoff zu importieren (zu den Details siehe Binder 2012). Ein Team von Mikrobiologen um Dustin Van Hofwegen war in der Lage, 46 citratverwertende E. coli-Stämme in nur 12 bis 100 Generationen zu isolieren, indem sie die Bakterien einer Selektion durch verschärfte Hunger-Bedingungen aussetzten. Die Sequenzierung der genomischen DNA ergab, dass es sich bei der Citrat-Verwertung um dieselbe Klasse von Mutationen handelte, die Richard Lenski und sein Team in ihrem Experiment identifiziert hatten (Van Hofwegen 2016). Die „Evolution“ wiederholte sich!

Lenskis Experiment begünstigt Fitness auf Kosten genetischer Komplexität

Mittels einer quantitativen Analyse – einer sogenannten Gene Array Analysis – wurde die Aktivität aller E.-coli-Gene in zwei von den separat evolvierten Stämmen verglichen. Unter mehreren Tausend Genen der beiden E.-coli-Bakterien-Stämme gab es lediglich 59, deren Aktivität sich im Laufe des Experiments verändert hatte. Die Ergebnisse waren jedoch bemerkenswert, weil sich die genetische Aktivität dieser 59 Gene nicht zufällig verändert hatte. Die Aktivität eines Gens kann stärker oder schwächer werden. Bei den beiden Bakterienstämmen hatte sich die Aktivität aller 59 Gene auf genau die gleiche Weise verändert (Cooper 2003). Wenn die Aktivität von Gen eins in Stamm eins zugenommen hatte, war das auch bei Stamm zwei der Fall. War die Aktivität von Gen zwei in Stamm eins verringert, war das auch in Stamm zwei der Fall – und so weiter. Es ist erstaunlich, dass „Evolution“ in Echtzeit parallele Entwicklungen durchläuft. Trotz einer separaten Entwicklungs­geschichte haben die zwölf Stämme sich sehr ähnlich entwickelt. Es wurde auch festgestellt, dass die Reproduktionsfähigkeit (oder: Fitness) der zwölf separat evolvierenden Populationen um etwa 70 Prozent zugelegt hatte (Cooper 2003). Spätere Analysen belegten zudem, dass die Genome der evolvierten Bakterien durchschnittlich um 1,4 Prozent kleiner geworden waren (Tenaillon 2016). Nach 50.000 Generationen besaßen alle Stämme weniger genetische Information – sie hatten DNA-Sequenzen verloren.

Die genetischen Änderungen verliefen also in eine bestimmte Richtung, ein unerwartetes Ergebnis, das jedoch in einer neuen Studie weitgehend bestätigt wurde (Couche 2024). In dieser Studie wurden Transposon-Insertionsbibliotheken in Stämmen erstellt, die sich über 50.000 Generationen entlang verschiedener Linien „entwickelt“ haben. Dabei handelt es sich um eine Methode, in der mit Hilfe von Transposons einzelne Gene des Bakteriums inaktiviert werden. Anschließend werden deren Auswirkungen auf die Fitness in sogenannten Wettbewerbsexperimenten untersucht (Couche 2024).

Es zeigte sich, dass die Zahl der vorteilhaften Mutationen während des Langzeitexperiments rasch abnahm, wobei sich die Fitnesskosten und die Relevanz der Gene in den verschiedenen Linien parallel veränderten. Manche nicht essenziellen Gene (also nicht zwingend benötigte Gene) wurden in allen Abstammungslinien essenziell, bei anderen war es genau umgekehrt. Die Autoren führen dies auf Epistase zurück, das heißt, die Expression eines Gens verändert sich durch die Expression eines oder mehrerer anderer Gene (z. B. indem es maskiert, gehemmt oder unterdrückt wird). Dies lässt sich leicht durch Verlustmutationen im regulatorischen Bereich der Genomexpression erklären und beinhaltet nicht den Zugewinn neuer Gene. Die Vorhersagbarkeit, die in Form von parallelen, getrennten Entwicklungen (wie oben beschrieben) auftritt, ist in erster Linie auf dieselben oder auf sehr ähnliche Verlustmutationen zurückzuführen (Couche 2024).

Ungenützt ist ungeschützt

Die Gesamtheit der mit E-.coli-Bakterien durchgeführten Studien zeigt, dass eine stabile Umgebung die Fitness (Reproduktionsfähigkeit) auf Kosten der genetischen Komplexität begünstigt. Das Schrumpfen der Genome der evolvierten Bakterien ist die logische Konsequenz eines beständigen Milieus, in dem ungenützte, redundante DNA-Sequenzen leicht verloren gehen können. Genetische Information kann nur stabil im Genom beibehalten werden, wenn sie wesentlich und ständig zur Reproduktion beiträgt. Redundante DNA-Sequenzen sind fortwährend der genetischen Erosion durch schädliche Mutationen ausgesetzt, welche die biologische Information, die diese Sequenzen bergen, allmählich zerstört (Leiby 2014). Sind sie erst einmal funktionslos, sind solche Programme überflüssig und gehen verloren. Sich schnell vermehrende E.-coli-Bakterien, die sich in Lenskis Experiment entwickelten, verloren die Fähigkeit, alternative Stoffwechselwege für Wachstum und Entwicklung zu nutzen, die sie im umgebenden Nährmedium sowieso nicht brauchten (Papadopoulos 1999). Weil nur Glukose und Citrat im Nährmedium vorhanden waren, wurde die genetische Information, die notwendig ist, um andere Zucker abzubauen, nicht genutzt, und ist darum verschwunden.

Das Verschwinden unnützer genetischer Programme, ist eine biologische Gesetzmäßigkeit in reproduzierenden biologischen Systemen, die in diesen Experimenten auftrat. In der biologischen Fachsprache wird dieser Umstand mit dem englischen Ausdruck Use it or lose it beschrieben. Auf Deutsch kann man diese Wendung mit ungenützt ist ungeschützt übersetzen. Wird ein genetisches Programm nicht gebraucht, ist es nicht vor der Zerstörungskraft zufälliger Mutationen abgesichert, und es geht verloren. In einer konstanten Umgebung mit ausreichend Nahrung sind alle genetischen Programme, welche die Reproduktionsfähigkeit eines Organismus verringern, nutzloser Ballast. Wenn Nahrung unbeschränkt vorhanden ist, wie in Lenskis Experiment, kann die ausgeprägte Kontrolle, die normalerweise die Zellteilungen reguliert, sich abschwächen oder sogar komplett verschwinden. In einer stabilen Umgebung können die Programme, die den Zellteilungsprozess normalerweise hemmen würden, aber aufgrund von Mutationen inaktiv geworden sind, dem Organismus durch „genetische Verschlankung“ einen Reproduktionsvorteil verschaffen. Evolutionstheoretiker sprechen dann von erhöhter Fitness. Wir wissen mittlerweile, dass eine solche „erhöhte Fitness“ leicht mit Verlustmutationen einhergeht. Als Schlussfolgerung aus Lenskis Experimenten bleibt festzuhalten: Bakterien degenerieren in Evolutionsversuchen.

Referenzen

Binder H (2012) Von der Citrat-Verwertung zur Entstehung des Auges?, https://www.genesisnet.info/index.php?News=187.

Blount ZD, Borland CZ & Lenski RE (2008) Historical contingency and the evolution of a key innovation in an experimental population of Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. U S A 105, 7899–7906, doi: 10.1073/pnas.0803151105.

Cooper TF, Rozen DE & Lenski RE (2003) Parallel changes in gene expression after 20,000 generations of evolution in Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. U S A 100, 1072–1077, doi: 10.1073/pnas.0334340100.

Couce A, Limdi A, Magnan M et al. (2024) Changing fitness effects of mutations through long-term bacterial evolution. Science 383, eadd1417, doi: 10.1126/science.add1417

Leiby N & Marx CJ (2014) Metabolic erosion primarily through mutation accumulation, and not tradeoffs, drives limited evolution of substrate specificity in Escherichia coli. PLoS Biol. 12(2):e1001789, doi: 10.1371/journal.pbio.1001789.

Papadopoulos D, Schneider D, Meier-Eiss J et al. (1999) Genomic evolution during a 10,000-generation experiment with bacteria. Proc. Natl. Acad. Sci. U S A 96, 3807–3812, doi: 10.1073/pnas.96.7.3807.

Tenaillon O, Barrick JE, Ribeck N et al. (2016) Tempo and mode of genome evolution in a 50,000-generation experiment. Nature 536, 165–170, doi: 10.1038/nature18959.

Van Hofwegen D, Hovde CJ, Minnich SA et al. (2016). Rapid evolution of citrate utilization by Escherichia coli by direct selection requires citT and dctA. J. Bacteriol. 198, 1022–1034. doi:10.1128/JB.00831-15.

Autor dieser News: Peter Borger

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