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22.02.24  War „Aufscheuchen“ die erste Funktion flächiger Federn?

„Die frühe Funktion flächiger Federn bleibt unklar.“ Mit dieser Einschätzung über die hypothetische Entstehung von Vogelfedern beginnt ein Forscherteam einen Artikel, in dem sie eine neue Idee einer Erstfunktion flächiger Federn vorstellen: Sind die Federn ursprünglich entstanden, um damit Insekten aufzuscheuchen, um diese besser fangen zu können? Die Autoren verwendeten sogar einen Vogelroboter, um ihre Hypothese zu testen. Doch diese Versuche bewerten nur das „Endprodukt“ und ermöglichen keine Antwort auf die Frage nach den Mechanismen der Entstehung flächiger Federn.

Die in der Überschrift genannte Frage könnte merkwürdig klingen. Wer die Diskussion über eine evolutive Entstehung von flächigen, flugtauglichen Vogelfedern nicht kennt, denkt vielleicht: Ich verstehe die Frage nicht. Wofür sollten die flächigen Vogelfedern gut sein, wenn nicht zum Fliegen? Es gibt zwar auch noch andere Federtypen wie die büscheligen Daunenfedern, die der Thermoregulation dienen, außerdem noch Deckfedern, die wie die Flugfedern flächig sind. Darüber hinaus gibt es spezialisierte Federtypen wie z. B. haarförmige Fadenfedern, die Rezeptoren an ihrer Basis besitzen, die die Stellung der Konturfedern registrieren können. Aber bei flächigen Federn denkt man vor allem an ihre Funktion für den Flug.

Wenn man davon ausgeht, dass Federn auf evolutivem Wege entstanden sind, stellt sich die Frage, wie das vonstattengegangen sein könnte. Evolutionäre Federentstehungshypothesen müssen dabei nicht nur die Frage nach den Mechanismen beantworten, sondern auch die Frage nach Selektionsdrücken: Welche äußeren Umstände haben eine Entstehung von Federn begünstigt? Dabei muss immer bedacht werden, dass es in evolutionären Hypothesen keine Zielorientierung geben darf. Aus evolutionärer Sicht gab es nie das Ziel, fliegen zu können!

Da flugtaugliche Federn sehr viele Anforderungen erfüllen müssen (Junker 2016), damit wenigstens eine minimale Flugfunktion gegeben ist, nimmt kaum ein Evolutionsbiologe an, dass Federn von vornherein als Teil des Flugapparats entstanden sind. Dafür müsste sich einfach viel zu viel auf einmal ändern. Was aber war dann die Erstfunktion? Hierzu gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die darauf abzielen, den großen Schritt zur Flugtauglichkeit in kleinere Schritte zu zerlegen.

Dazu wurde z. B. vermutet, dass Federn kleinen zweibeinigen Dinosauriern zunächst beim Laufen flinkere Manöver ermöglichten oder – derzeit besonders populär – dass sie zunächst als Showelement beim Balzverhalten dienten. Auch die Idee, dass die flächigen Federn an den „Protoflügeln“ als Fangnetz für Insekten eingesetzt wurden, wurde schon vorgeschlagen, oder dass sie ursprünglich als eine Art Abfalldepot für überschüssige Eiweiße mitsamt ihren schwefelhaltigen Bestandteilen sowie giftige Farbstoffe genutzt wurden. Nach einem stark popularisierten Entstehungsmodell sollen daunenartige Federn den Start gebildet haben.

Es gibt noch weitere Hypothesen. Alle diese Feder-Vorstufen-Hypothesen haben jedoch (meist mehrere) schwerwiegende Defizite, so dass sie de facto allesamt aus dem Rennen ausscheiden. Einige Gründe für das Scheitern seien in Kurzform genannt (detailliert bei Junker 2017, 78–82):

1. Der Sprung zu den hypothetischen Vorstufen ist in den meisten Fällen immer noch viel zu groß für ungesteuerte und ziellose evolutionäre Mechanismen.

2. Selektion auf Thermoregulation, Fangen, Schauwirkung oder Abfallbeseitigung würde zur Optimierung dieser bereits bestehenden Funktionen und des entsprechenden Verhaltens führen, aber einen extremen Funktionswechsel hin zum Fliegen nicht begünstigen, sondern diesem sogar eher entgegenstehen.

3. Weder für Schauwirkung noch für Abfallbeseitigung werden komplexe Gebilde wie flächige Federn benötigt.

4. Die als ursprünglicher angesehenen Daunenfedern enthalten ihre wärmedämmende Wirkung nur unter schützenden Konturfedern; bei Nässe wären sie sonst kontraproduktiv, weshalb Thermoregulation nicht die Erstfunktion gewesen sein kann.

Angesichts dieser schwerwiegenden und ungelösten Probleme verwundert es nicht, dass weiterhin nach anderen Zwischenfunktionen Ausschau gehalten wird. Die Wissenschaftler sind offensichtlich nicht zufrieden mit den bisherigen Hypothesen und entwickeln daher neue Ansätze. Kürzlich hat ein Forschungsteam um Jinseok Park von der südkoreanischen Seoul National University eine neue Hypothese zur Funktion einer hypothetischen Feder-Vorstufe präsentiert: die sogenannte „Aufscheuch-Verfolgungs-Hypothese“ (Park et al. 2024). Danach sollen kleine Dinosaurier ihre Protoflügel bei der Jagd nach Insekten eingesetzt haben. Manche insektenfressende Vogelarten tun das auch heute, indem sie bei der Suche nach Insekten ihre Flügel und Schwanzfedern plötzlich aufklappen, was bei den Beutetieren einen Fluchtreflex auslöst. Dadurch kommen die Beutetiere aus ihren Verstecken heraus und können so leichter erbeutet werden. Nebenbei bemerkt ist die Fähigkeit zum Aufscheuchen bei heutigen Vögeln völlig unsystematisch im Stammbaum verteilt (s. Abb. 448; vgl. Park et al. 2024, Fig. 1).[1] Dies erfordert aus evolutionärer Sicht die Annahme vielfältiger Konvergenzen, also unabhängiger Entstehungsereignisse, oder die Annahme, dass Vögel ursprünglich diese Fähigkeit besaßen, aber in über 99,9 % der ca. 11.000 heutigen Arten und in ca. 94 % der ca. 250 heutigen Vogelfamilien wieder verloren hätten (vgl. zu den Zahlen heutiger Vögel: https://birdsoftheworld.org/bow/news/new-feature-bird-family-overviews, am 01.02.2024). Beide Szenarien sind ausgesprochen unwahrscheinlich.

Die Autoren mutmaßen, dass dieses Verhalten schon bei Vogel-Vorfahren vorhanden gewesen sein könnte, die keine Federn besaßen, und dass es durch den Erwerb der Federn deutlich verbessert werden konnte. Später sollen dann die für diesen Zweck evolvierten Federn für den Flug verwendet worden sein – was wiederum einen enormen Zusatzaufwand für den aufs Fliegen spezialisierten Feinbau erfordert hätte (vgl. Junker 2016).

Dass der Besitz von Federn für das Aufscheuchen von Insekten vorteilhaft ist, konnten die Forscher auch mit einem Roboter zeigen, welcher der mit flächigen, symmetrischen Federn (Ji 1998, 758) versehenen Gattung Caudipteryx aus der unteren Kreide (124 Millionen radiometrische Jahre) nachempfunden wurde. Im Experiment sollte der Robotor durch das Ausbreiten seiner „Arm-“ und „Schwanzfedern“ die Feldheuschrecke Oedaleus infernalis aufschrecken. Diese Heuschrecke wurde von den Autoren gewählt, da sie ein Modell für die mögliche Beute für Caudipteryx gewesen sein könnte (vgl. Park et al. 2024, 14).[2] Mit simulierten, flächigen Federstrukturen an den Armen war das Aufscheuchen fast doppelt so erfolgreich wie ohne diese Strukturen; auch die simulierten Schwanzfedern trugen zur Verbesserung des Aufscheuch-Erfolgs bei.

Kommentar

Die Forscher sind der Auffassung, dass ihre experimentellen Ergebnissen ihre Hypothese vom ursprünglichen Zweck von flächigen Federn als Mittel zum Aufscheuchen bestätigten: „Die Aufscheuch-Verfolgungs-Hypothese kann das Vorhandensein und die Verteilung der Schwungfedern, die Farbkontraste im Gefieder sowie eine Reihe anderer Merkmale, die bei die bei frühen Pennaraptoren beobachtet wurden, erklären.“[3] Aber diese Hypothese teilt einen schwerwiegenden Mangel mit den meisten anderen Hypothesen zur Entstehung flächiger Federn: Ein verbessertes Aufschrecken von Insekten erfordert bereits flächige Federn. Damit überhaupt ein messbarer (selektierbarer) Effekt erzielt werden kann, muss die Federentstehung schon weit fortgeschritten sein. Und Selektion greift bekanntlich erst dann, wenn eine neu evolvierte Struktur bereits so weit ausgebildet ist, dass eine neue Funktion wenigstens ansatzweise ausgeübt werden kann.

Die Autoren unterliegen einem Fehlschluss, den es in der Evolutionsforschung schon sehr lange gibt: Den Schluss vom Selektionsvorteil des fertigen Produkts auf die Existenz eines Entstehungswegs auf evolutivem Wege mittels natürlicher Evolutionsmechanismen. Selbst wenn die Federn tatsächlich bei manchen mutmaßlichen Vogel-Frühformen als Aufscheuch-Strukturen genutzt worden wären und dies einen Selektionsvorteil gegenüber Formen bieten würde, die ohne Federn Insekten aufscheuchen, wäre dies noch kein Argument, dass dies evolutionär und ungesteuert möglich ist. Wenn das „fertige Produkt“ Selektionsvorteile aufweist, und selbst wenn mehrere Eigenschaften der betreffenden Struktur zum Selektionsvorteil beitragen, ist damit nichts für die Frage nach der Entstehungsweise gewonnen. Denn der ganze evolutive Weg zur betreffenden Struktur muss gangbar sein – und das wird in der Arbeit von Park et al. (2024) nicht diskutiert. Aus diesem Grund und wegen der zuvor genannten theoretischen Überlegungen scheidet die neue Hypothese als evolutive Erklärung genauso aus – ebenso wie die vielen anderen vorgebrachten Hypothesen. Bisher liegen somit keine plausiblen, konkreten Evolutionsmechanismen vor, mit denen man den Ursprung komplexer flächiger und vor allem flugtauglicher Federn ohne einen Schöpfer erklären kann.

Dank

Die Informationen über das Vorkommen der „Aufschreck-Jäger“ und das fossile Vorkommen der Heuschrecken verdanke ich Benjamin Scholl.

Anmerkungen

[1] Bestätige „Aufschreck-Jäger” unter den Vögeln (nach Park et al. 2024, Suppl. info., 3-9): Pluvianidae (Krokodilwächter): Pluvianus aegyptius; Cuculidae (Kuckucke): Geococcyx californianus; Trogonidae (Trogone): Harpactes fasciatus; Oxyruncidae (Flammenkopfbekarde): Myiobius villosus; Tyrannidae (Tyrannen): Zimmerius chrysops; Thamnophilidae (Ameisenvögel): Microrhopias quixensis und Epinecrophylla haematonota; Furnariidae (Töpfervögel): Dendrocichla fuliginosaD. merula und D. anabatina; Rhipiduridae (Fächerschwänze): Rhipidura aureolaR. leucophrys und R. albicollis; Monarchidae (Monarchen): Trochocercus nitens und Terpsiphone viridis; Stenostiridae (Elfenschnäpper): Chelidorhynx hypoxanthus und Elminia longicauda; Scotocercidae (Wüstendickichtsänger): Erythrocercus mccallii; Sittidae (Kleiber): Sitta frontalis; Mimidae (Spottdrosseln): Mimus polyglottos; Thraupidae (Tangaren): Hemithraupis guira; Parulidae (Waldsänger): Myioborus miniatusM. pictus und M. torquatus. Von einigen Arten weiterer Familien äußern die Autoren (ebd.) die Vermutung, dass sie dieses Verhalten ebenfalls beherrschen.

[2] Die Ordnung der Heuschrecken (Orthoptera) ist fossil mit Oedischia williamsoni seit dem Oberkarbon, also seit ca. 301 Millionen radiometrischen Jahren (MrJ), bekannt (Song et al. 2015, Tab. 3; vgl. Labandeira 1994). Protogryllus ist mit ca. 232 Mrj das älteste, eindeutige fossile Mitglied der Überfamilie Grylloidea. Mit Prototetrix reductus und Archaeomastax jurassicus sind zwei Vertreter heutiger Familien (Tetrigidae bzw. Eumastacidae) bekannt, die aus der Unterkreide (ca. 131 MrJ) bzw. aus dem Oberjura (ca. 154 MrJ) stammen (ebd.). Dies sind also „lebende Fossilien“ auf Familienebene, die fossil fossil mindestens so alt wie Caudipteryx sind. Konkret für die Feldheuschrecken (Acrididae) gibt Labandeira (1994) ein fossiles Vorkommen im Jura (Tithonium: 152–145 MrJ) an, während Song et al. (2015, Tab. 3) meinen, dass diese Familie fossil erst seit 36 MrJ bekannt ist.

[3] “The flush-pursue hypothesis can explain the presence and distribution of the pennaceous feathers, plumage color contrasts, as well as a number of other features observed in early pennaraptorans.”

Quellen

Junker R (2016) Vogelfedern und Vogelflug. 1: Was eine Evolutionshypothese erklären müsste. Stud. Integr. J. 23, 75–82, http://www.si-journal.de/index2.php?artikel=jg23/heft2/sij232-2.html.

Junker R (2017) Dino-Federvieh – Zum Ursprung von Vogelfeder und Vogelflug. W+W Special Paper B-17-1, https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/b-17-1_feder-und-flug.pdf

Labandeira C (1994) A compendium of fossil insect families. Milwaukee Public Museum Contributions in Biology and Geology, https://www.researchgate.net/publication/285839632.

Park J, Son M et al. (2024) Escape behaviors in prey and the evolution of pennaceous plumage in dinosaurs. Sci. Rep. 14:549.

Ji Q et al. (1998) Two feathered dinosaurs from northeastern China. Nature 393, 753–761, https://doi.org/10.1038/31635.

Song H et al. (2015) 300 million years of diversification: Elucidating the patterns of orthopteran evolution based on comprehensive taxon and gene sampling. Cladistics 31, 621–651, https://doi.org/10.1111/cla.12116.

Autor dieser News: Reinhard Junker

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