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08.09.23  Hat sich die Minimalzelle weiter entwickelt?

In den Medien wurde in letzter Zeit mehrfach über „die Evolution der einfachsten Zelle“ berichtet (Moger-Reischer et al. 2023; Menne 2023). Es handelt sich um eine Variante des Bakteriums Mycoplasma mycoides, ein im Stoffwechsel reduzierter Endoparasit. Mit 901 Genen ist M. mycoides der kleinste der Wissenschaft bekannte Organismus, der aber nicht selbständig in der Natur, sondern nur im Darm von Wiederkäuern überlebt. Davon leiteten Wissenschaftler durch Kürzungen im Erbgut die sogenannte Minimalzelle, JCVI-syn3B, mit 493 Genen ab (Pelletier et al. 2021). Entwickelte sich diese Variante im Labor nun weiter? Oder geschieht etwas, was wir von sich reproduzierenden Systemen erwarten: die Optimierung der Replikation? Es stellt sich heraus, dass „die Evolution der Minimalzelle“ nichts anderes ist als der Gewinn des Reproduktionswettbewerbs ohne einen Nettogewinn an biologischer Information.

Ein Gedankenexperiment: Was ist Evolution?

Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment, um festzustellen, was in der experimentellen Forschung üblicherweise mit „Evolution“ gemeint ist. Wir starten mit einem lebenden Bakterium in einem mit Brühe gefüllten Laborkolben, dem jedoch eine Kohlenstoffquelle fehlt, d. h. wir verwenden eine Brühe, die alle für das Bakterium notwendigen Nährstoffe außer z. B. Glukose enthält. Glukose ist ein Zucker, den das Bakterium als Baustoff- und Energiequelle für die Bildung neuer Zellen verwendet. In einem Medium ohne Glukose wird sich das Bakterium nicht vermehren können; es wird sich nicht teilen. Anschließend stellen wir einen Hebel um, damit Glukose in den Kolben hineinfließen kann. Weil es jetzt eine essenzielle Bau- und Energiequelle gibt, beginnt sich die Mikrobe zu teilen. Unter optimalen Bedingungen benötigt das Bakterium nur zwanzig Minuten, um eine Tochterzelle zu produzieren. Das Bakterienwachstum ist exponentiell. Nach einem Tag haben wir eine Brühe mit Milliarden von Bakterien. Sie sind nicht identisch, weil Bakterien eine natürliche Tendenz zur Veränderung haben. Die Genome (das komplette Erbgut) von Bakterien sind in einem kontinuierlichen State of Flux, das heißt, die Genome werden ständig neu angeordnet. Einige Bakterien können genetisches Material verlieren, während andere Bakterien Teile ihres Genoms verdoppeln. Obwohl das Experiment mit einem einzigen bakteriellen Genom begann, wird nach mehreren Runden Zellteilung keines der bakteriellen Genome gleich sein. Mit einem Mikroskop kann man das zwar nicht feststellen, aber genetisch und biochemisch sind sie verschieden. Sie sind nicht mehr genauso wie das Bakterium, mit dem das Experiment begonnen wurde. Und in der Brühe gibt es nach einem Tag kaum noch zwei Mikroben, die genau gleich sind.

Wenn wir nun den Zu- und Ablauf zu bzw. von dieser Brühe entsprechend regulieren, können wir eine stationäre Kultur schaffen, in der die Zuckerkonzentration und die Bakterienkonzentration konstant sind. Unter diesen Bedingungen ist der einzige relevante Parameter, durch den sich die Bakterien unterscheiden, die Fähigkeit, Glukose im Stoffwechsel zu verarbeiten. Jetzt wird der Organismus mit der kürzesten Teilungsperiode – das ist der schnellste Replikator – in der Häufigkeit zunehmen. Einfache mathematische Überlegungen zeigen, dass die Anzahl der schnellsten Replikatoren viel schneller zunimmt als die der langsameren, so dass erstere nach einiger Zeit die gesamte Population dominieren. Wenn wir die Mikroorganismen weiter kultivieren, stellen wir fest, dass die Mikrobenmasse größtenteils aus schnellsten Replikatoren besteht. Da die Teilungszeit ein messbares Merkmal ist, werden die Biologen nun sagen, dass ein Organismus mit einer erhöhten Fortpflanzungsrate (oder einer verkürzten Fortpflanzungsperiode) evolviert ist. Wenn es einem der Bakterien gelingt, seine Fortpflanzungszeit auch nur minimal zu verkürzen, wird diese Variante nach einer ausreichenden Anzahl von Replikationsrunden die gesamte Kultur ausmachen. Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments ist klar: Die Selektion wirkt sich dahingehend aus, wie schnell sich Organismen innerhalb einer Population vermehren.

Erweitern wir das Experiment: Was würde passieren, wenn wir ein Antibiotikum, das die Reproduktion der Mikroben beeinträchtigt, in das System einführen würden? Es ist jetzt nicht nur wichtig, Glukose abbauen zu können, sondern ebenso wichtig, mit diesem Antibiotikum umgehen zu können. Wir lassen den Glukose-Zufluss unverändert und beginnen mit der Zugabe von Antibiotika in einer sehr niedrigen Konzentration. Wenn wir zu viel auf einmal hinzufügen, würden alle Mikroben sofort sterben. Um eine natürliche Selektion zu realisieren, müssen wir mit einer geringen Konzentration an Antibiotika beginnen, damit genügend Mikroben am Leben bleiben. Obwohl die Teilungszeit aufgrund des Vorhandenseins des Antibiotikums etwas länger ist, wird es immer noch einige Bakterien geben, die sich schneller vermehren als andere und dadurch mehr Nachkommen produzieren als die anderen Bakterien. Und wieder sind es die schnellsten Zellteiler, die nach gewisser Zeit in der gesamten Zuchtkultur vorherrschen werden. Anscheinend ist das Tempo, mit dem sich Organismen unter den gegebenen Umständen multiplizieren, das Auslesekriterium. Es stellt sich heraus, dass die Reproduktionsfähigkeit – Evolutionsbiologen reden von Fitness – immer das Kriterium ist, welches das Ergebnis der Auslese-Experimente bestimmt, zumindest in Bakterienkulturen unter den gegebenen Randbedingungen.

Das Replikatorgesetz

Mit diesen Gedankenexperimenten haben wir eine wesentliche Gesetzmäßigkeit reproduzierender Systeme verdeutlicht: Die Auslese (Selektion) begünstigt unter sonst gleichen Bedingungen diejenigen Organismen, die sich am schnellsten vermehren. Das ist auch in natürlichen Populationen so. Die Existenz einer Population wird letztlich nur gesichert durch Fortpflanzung. „Reproduziere oder krepiere ist ein wichtiger biologischer Grundsatz. Würde die Reproduktionsrate die Sterberate nicht übertreffen, wäre eine Population von Organismen schnell dezimiert und würde schließlich aussterben. Dieses Gesetz gilt für alle biologischen Systeme und Populationen, sonst würden wir diese Lebewesen nicht vorfinden. Es gilt für rezidivierende (wiederkehrende) Krebszellen, für die klonale Selektion von Immunzellen, für Viren, und ebenso für die Bildung von Geschlechtszellen. Die schnellsten Replikatoren gewinnen immer das Rennen! Nicht die komplexesten Varianten, die die meisten Gene besitzen, sondern die, die sich (unter den vorherrschenden Umweltbedingungen) am schnellsten vermehren, gewinnen. Dies ist das Prinzip des Überlebens des Fittesten („survival of the fittest“).

Die Forscher, die in der Zeitschrift Nature über die Evolution der Minimalzelle berichteten, stellten fest, dass die Minimalzelle, JCVI-syn3B,  eine außergewöhnlich hohe Mutationsrate aufweist (Moger-Reischer et al. 2023). Dies ist nicht überraschend, da alle Gene, die nicht direkt für die Fortpflanzung benötigt werden, in dieser Variante entfernt wurden, also auch diejenigen Gene, die normalerweise die DNA ordnungsgemäß reparieren würden. Durch diesen Wegfall treten Mutationen häufiger auf. Außerdem stellten sie fest, dass der neue Stamm im Vergleich zu den ursprünglichen Minimalzellen (Ausgangsstamm JCVI-syn3B) eine um 39 Prozent höhere Reproduktionsrate aufwies: Als die Evolutionsbiologen die „weiterentwickelten“ Zellen mit „ursprünglichen“ Minimalzellen kultivierten, übernahmen die „weiterentwickelten“ JCVI-syn3B die Kontrolle und verdrängten sie. Die Autoren schreiben, dass der neu entwickelte Stamm „die gesamte Fitness“ wiedererlangt hat, die verloren ging, als das Genom künstlich verkleinert wurde und dadurch viele seiner Gene verloren gingen.

Es ist offensichtlich, dass der Begriff „Fitness“ mit der Reproduktionsrate unter den gegebenen, in diesem Fall künstlichen, Umweltbedingungen korreliert und nicht mit dem Erwerb neuer Fähigkeiten. Die Daten dieses Laborexperiments stimmen also mit dem überein, was wir nach dem Gesetz der sich reproduzierenden Systeme erwarten würden: Die Selektion betrifft immer die Reproduktionsrate. Die schnellsten Replikatoren ersetzen die jeweils langsameren (Borger 2018).

Schlussfolgerung

Für einen innovativen Evolutionsprozess, in dem sich der Mensch aus niederen Organismen entwickelt hat, muss es einen kontinuierlichen Eintrag neuer genetischer Informationen geben, also codierte Anweisungen, die dem Organismus einen Fortpflanzungsvorteil (erhöhte Fitness) verschaffen. Mit anderen Worten: Sie erfordert neue biologische Information und damit auch neuartige Gene. In der Veröffentlichung in Nature werden weder neue Gene noch neue codierte Information oder neue genetische Anweisungen erwähnt. Letztes Jahr, als der Vorabdruck dieses Artikels bei BioArXiv veröffentlicht wurde, habe ich mich mit den Autoren in Verbindung gesetzt und sie gefragt, ob die beobachtete erhöhte Fitness mit der Evolution neuer Gene zusammenhängt. Leider haben sie auf meine wiederholte Bitte, meine einfache Frage zu beantworten, nie geantwortet. Ich vermute daher, dass dieses Experiment, das eine erhöhte Fitness zeigt, nicht mit neuen Genen verbunden ist. Demgemäß bestätigt dieses Experiment nur das Gesetz der Replikatoren. Mit innovativer Evolution hat es nichts zu tun. Die JCVI-Syn3B Zellen haben sich also nicht innovativ weiterentwickelt, sondern lediglich ihre Replikationszeit verkürzt, wie man es nach dem oben beschriebenen Replikatorgesetz erwarten würde. Innovative Evolution ist nicht einfach nur eine erhöhte Reproduktionsrate. Von einer tatsächlichen Weiterentwicklung könnte nur gesprochen werden, wenn die Reproduktionsrate mit einer erhöhten biologischen Komplexität einherginge. Das ist aber nicht die beobachtete biologische Realität, sondern lediglich eine Annahme.

Quellen

Borger P (2018) Darwin Revisited – Or how to understand Biology in the 21st century. Scholars Press, pp 30–45.

Moger-Reischer RZ et al. (2023) Evolution of a minimal cell. Nature 620, 122–127, https://www.nature.com/articles/s41586-023-06288-x.

Menne K (2023) Auch mit wenig Erbgut gelingt Evolution. Spektrum. News 08.07.2023, https://www.spektrum.de/news/auch-mit-wenig-erbgut-gelingt-evolution/2157744.

Pelletier JF et al. (2021) Genetic requirements for cell division in a genomically minimal cell. Cell 184, 2430–2440, https://doi.org/10.1016/j.cell.2021.03.008.

Autor dieser News: Peter Borger

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