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23.12.16  Entstehung evolutionärer Neuheiten – ungelöst!

Zentrale Fragen zur Aufklärung der Entstehung evolutionärer Neuheiten und ihrer Ursachen sind unbeantwortet. Die zunehmende Kenntnis über die Details lebender Organismen und ihrer Konstruktionen lässt die Unzulänglichkeit der bisherigen kausalen Evolutionstheorien umso deutlicher hervortreten. Die Kontroverse darüber wird innerhalb der Evolutionsbiologie offen ausgetragen.

In populären Darstellungen über Evolution, in Schul- und Lehrbüchern oder auch in interdisziplinär-theologischen Abhandlungen wird schon seit Jahrzehnten  behauptet, dass ein evolutionärer Ursprung der Lebewesen eine Tatsache sei. Darüber hinaus könne auch als geklärt gelten, dass und wie Evolution nach rein natürlichen Mechanismen – d. h. ohne zielgerichteten, schöpferischen Input – abgelaufen sei. In einem kirchlichen Text wird folgende Einschätzung gegeben: „Die Frage ist, ob das Wechselspiel von genetischen Veränderungen und Selektion eine hinreichende naturwissenschaftliche Erklärung für die Evolution der irdischen Lebenswelt liefert! Die gegenwärtige Biologie beantwortet diese Frage mit Ja“ (Hemminger 2007, 22).

Eine wachsende Zahl von Evolutionsbiologen würde dieser Einschätzung bezüglich den „Wie“ allerdings nicht zustimmen. Im Jahr 2003 listeten der Wiener Entwicklungsbiologe Gerd B. Müller und der Zellbiologe und Anatom Stuart A. Newman eine große Anzahl ungelöster Fragen der kausalen Evolutionsforschung auf (vgl. Mikroevolution, Makroevolution und „ID“); die ersten sechs davon lauten:

1. Burgess shale-Effekt: Weshalb entstanden die Baupläne der Vielzeller explosionsartig?

2. Homoplasie: Weshalb entstehen ähnliche Gestalten unabhängig und wiederholt?

3. Konvergenz: Weshalb produzieren entfernt verwandte Linien ähnliche Designs?

4. Homologie: Weshalb organisieren sich Bauelemente als fixierte Baupläne und Organformen?

5. Neuheit: Wie werden neue Elemente in bestehende Baupläne eingeführt?

6. Modularität: Weshalb werden Design-Einheiten wiederholt verwendet?

Es ist leicht zu sehen, dass es sich nicht um Randfragen oder spezielle Details handelt, sondern um zentrale Fragen der evolutionsbiologischen Forschung: Wie können Neuheiten und die Organisation der Lebewesen entstehen? In der Folgezeit wurde in Fachartikeln von verschiedenen Autoren immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass diese Fragen nach wie vor auf Antworten warten. Nachfolgend einige Beispiele (in Übersetzung des Autors; die z. T. längeren Originalzitate finden sich im Anhang:

  • „Die Prozesse, die evolutionären Innovationen zugrunde liegen, sind bemerkenswert wenig verstanden. … [W]ir haben relativ wenig Fortschritt erzielt im Verständnis, wie neue Eigenschaften erstmals entstehen“ (Moczek 2008, 432).
  • „Eines der bedeutendsten ungelösten Probleme der Biologie ist das Verständnis, wie neue, komplexe Phänotypen (=Gestalten) entstehen, sowohl in der individuellen Entwicklung als auch in der Stammesgeschichte“ (Ledon-Rettig et al. 2008, 316).
  • „Die Skelettarchitektur von Wirbeltieren ist sehr unterschiedlich, doch die Basis für Veränderungen im groben Skelettbau bleibt fast völlig unbekannt“ (Rudel & Sommer 2003, 21).
  • „[D]ie Kernfrage – der genetische Ursprung neuer und komplexer Merkmale – ist wahrscheinlich eine der hartnäckigsten und fundamentalen unbeantworteten Fragen in der Evolutionsforschung heute“ (Monteiro & Podlaha 2009, 215).
  • „[D]ie genetischen Änderungen, die erklären, wie komplexe Formen entstehen, sind immer noch unklar“ (Martin et al. 2012, 12632).
  • „Der Ursprung und die Diversifizierung neuer Eigenschaften ist eine der spannendsten ungelösten Probleme in der evolutionären Entwicklungsbiologie“  (Saenko et al. 2011, 1).
  • „Wie Körperbaupläne in der Natur evolvieren, bleibt weitgehend unbekannt“ (Cleves et al. 2014, 13912).
  • „Wir sind uns noch nicht sicher, welches die Erklärung für Neuheiten ist. … Ich vermute, dass der Ursprung von Neuheiten auch natürliche Selektion benötigt, ebenso wie zusätzliche Mechanismen, aber worin diese bestehen, muss erst noch durch weitere empirische Forschung herausgefunden werden“ (Wagner 2014, 125).

Im Jahr 2010 veröffentlichten Jerry Fodor und Massimo Piattelli-Palmarini das viel beachtete und auch viel gescholtene Buch „What Darwin got wrong“. Darin behaupten (und begründen) sie, dass (und warum) die Selektionstheorie darin scheitere, die Entstehung neuer Formen zu erklären, und dass es derzeit auch keine alternative Erklärung gebe  ([vgl. Lag Darwin falsch?). Als bekennende Atheisten sind sie aber überzeugt, dass es eine rein naturalistische Erklärung geben muss, die derzeit jedoch nicht bekannt sei. (Für seine Kritik wurde Jerry Fodor von David Sloan Wilson als „säkularer Kreationist“ bezeichnet, siehe http://www.suzanmazur.com/?p=20)

Und der in den USA bekannte und renommierte atheistische Philosoph Thomas Nagel veröffentlichte im Jahr 2012 das Buch „Mind and Cosmos“, in Deutsch 2013 veröffentlicht mit dem Untertitel „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“. Darin thematisiert Nagel u. a. die „immensen Schwierigkeiten, die Entstehung des Lebens und der Arten allein durch nichtgerichtete Prozesse verständlich zu machen“ (Widenmeyer 2013).

Die Kontroverse wird offen ausgetragen. Die Zahl der Kritiker der Standard-Evolutionstheorie (Neodarwinismus, Synthetische Evolutionstheorie, Erweiterte Synthese u. a.) war schließlich so stark angeschwollen, dass die bedeutende Wissenschaftszeitschrift Nature im Oktober 2014 unter der Überschrift „Does evolutionary theory need a rethink?“ ein Pro & Contra von zwei Wissenschaftler-Gruppen veröffentlichte (deutsche Übersetzung: http://www.spektrum.de/news/brauchen-wir-eine-neue-evolutionstheorie/1320620). Die eine Gruppe plädierte für ein „dringendes Ja“, also  für ein Umdenken (Laland et al. 2014), während für die andere Gruppe alles in bester Ordnung ist (Wray et al. 2014) (vgl. „Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?“).

Der letzte Höhepunkt dieser Entwicklung war eine wissenschaftliche Tagung der britischen Royal Society Anfang November 2016, auf der die Kontroverse zwischen den beiden Lagern drei Tage lang ausgetragen wurde. Siegfried Scherer berichtet: „Die Kritiker meinen, dass der Neodarwinismus ‚dringend überdacht‘ werden müsse, unter anderem um Höherentwicklung im Evolutionsprozess zu erklären. Die Neodarwinisten halten dagegen, dass die Kritiker eigentlich nichts grundsätzlich Neues vorzutragen hätten, mit der herrschenden Lehre sei ‚alles gut‘.“ Es stand nicht weniger als die Frage im Raum, ob alle bisher vorgeschlagenen Erklärungsversuche unzureichend sein könnten (Bericht unter https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/detailansicht/aktuell/hatte-darwin-doch-nicht-recht-98445/). Die Streitpunkte waren dieselben wie beim o. g. Pro & Contra in Nature – in Kurzform:

  • Der genzentrierte Ansatz (Genänderungen als Initialzündungen) müsse ergänzt werden durch die Berücksichtigung zahlreicher Wechselwirkungen mit äußeren und inneren Einflüssen während der ontogenetischen Entwicklung.
  • Die Umweltbedingungen haben nicht nur eine passive Rolle als Selektionsfaktoren, vielmehr werde die Umwelt durch die Lebewesen aktiv mitgestaltet (Nischenkonstruktion); dadurch beeinflussen die Lebewesen selbst auch ihre eigene Evolution.
  • Durch die Plastizität der Lebewesen (Änderungen infolge von Umweltreizen – ohne Genänderungen) sei eine schnelle Anpassung und sogar die Offenlegung bisher verborgener Merkmale möglich, die nachfolgend durch Genvariationen (Mutationen) dauerhaft sichtbar fixiert werden können.
  • Extragenetische Veränderungen (Epigenetik) in der Gen-Regulation könnten wie die Gene selber ebenfalls vererbt werden und Einfluss auf Evolution nehmen.

Im Beitrag „Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?“ wird erläutert, warum diese Vorschläge für die Erklärung evolutionärer Neuheiten nicht zielführend sind.

Fazit. Von einer Klärung der Evolutionsmechanismen, die zu neuartigen Bauplänen von Organismen führen, kann nicht die Rede sein – im Gegenteil: Je mehr die Details lebender Konstruktionen aufgeklärt werden, desto deutlicher zeigt sich die Unzulänglichkeit der bisherigen kausalen Evolutionstheorien. In Bezug auf die Frage nach den Mechanismen der Makroevolution – der Entstehung von Neuheiten – hat der Wissensfortschritt die Erklärungsdefizite nicht kleiner gemacht, sondern deutlicher hervortreten lassen. Solange die Diskussion sich freilich nur im Rahmen naturalistischer Antwortmöglichkeiten bewegt und – ohne klare Sachargumente und ohne zwingende methodologische Begründung – die Option „Schöpfung“ aus dem Rennen um die zutreffende Antwort herausgehalten wird, kann es – allein aus wissenschaftstheoretischer Sicht – sein, dass nur um die beste Hypothese im Rahmen eines falschen Ansatzes gestritten wird.

Literatur

Cleves PA, Ellis NA, Jimenez MT, Nunez SM, Schluter D, Kingsley DM & Miller CT (2014) Evolved tooth gain in sticklebacks is associated with a cis-regulatory allele of Bmp6. Proc. Natl. Acad. Sci. 111, 13912-13917.

Fodor J & Piattelli-Palmarini (2010) What Darwin got wrong. News York

Hemminger H (2007) Mit der Bibel gegen die Evolution. EZW-Texte 195.

Ledon-Rettig CC, Pfennig DW & Nascone-Yoder H (2008) Ancestral variation and the potential for genetic accommodation in larval amphibians: implications for the evolution of novel feeding strategies. Evol. Dev. 10, 316-325.

Martin A, Papa R, Nadeau NJ, Hill RI, Counterman BA, Halder G, Jiggins CD, Kronforst MR, Long AD, McMillan WO & Reed RD (2012) Diversification of complex butterfly wing patterns by repeated regulatory evolution of a Wnt ligand. Proc. Natl. Acad. Sci. 109, 12632-12637.

Moczek AP (2008) On the origins of novelty in development and evolution. BioEssays 30, 432-447.

Monteiro A & Podlaha O (2009) Wings, horns, and butterfly eyespots: How do complex traits evolve? PLoS Biology 7:2, 0209-0216; doi: 10.1371/journal.pbio.1000037.

Müller GB & Newman SA (2003) Origination of organismal form: The forgotten cause in evolutionary theory. In: Müller GB & Newman SA (eds) Origination of organismal form. Beyond the gene in developmental and evolutionary biology. Vienna Series in Theoretical Biology. Cambridge, MA, pp 3-12.

Laland K et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? Yes, urgently. Nature 514, 161-164.

Moczek AP (2008) On the origins of novelty in development and evolution. BioEssays 30, 432-447.

Rudel D & Sommer RJ (2003) The evolution of developmental mechanisms. Dev. Biol. 264, 15-37.

Saenko SV, Maralva MSP & Beldade P (2011) Involvement of the conserved Hox gene Antennapedia in the development and evolution of a novel trait. EvoDevo 2011, 2:9; doi: 10.1186/2041-9139-2-9.

Wagner GP (2014) Homology, genes, and evolutionary innovation. Princeton University Press.

Widenmeyer M (2013) Rezension von: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Studium Integrale Journal 20, 124-126. http://www.wort-und-wissen.de/sij/sij202/sij202-r1.html

Wray G et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? No, all is well. Nature 514, 161-164.

Anhang: Originalzitate

„Given its importance and pervasiveness, the processes underlying evolutionary innovation are, however, remarkably poorly understood, which leaves us at a surprising conundrum: while biologists have made great progress over the past century and a half in understanding how existing traits diversify, we have made relatively little progress in understanding how novel traits come into being in the first place“ (Moczek 2008, 432).

„One of biology’s most significant unresolved issues is to understand how novel, complex phenotypes originate, both developmentally and evolutionarily“ (Ledon-Rettig et al. 2008, 316),

„The skeletal architecture of vertebrates is widely divergent, yet the basis for change in gross skeletal morphology remains almost entirely unknown“ (Rudel & Sommer 2003, 21).

„This work is difficult and time consuming, but the question at its core—the genetic origin of new and complex traits—is probably still one of the most pertinent and fundamental unanswered questions in evolution today“ (Monteiro & Podlaha 2009, 215).

„Although animals display a rich variety of shapes and patterns, the genetic changes that explain how complex forms arise are still unclear“ (Martin et al. 2012, 12632).

„The origin and diversification of novel traits is one of the most exciting unresolved issues in evolutionary developmental biology“ (Saenko et al. 2011, 1).

„How body pattern evolves in nature remains largely unknown“ (Cleves et al. 2014, 13912).

„The explanation for adaptation is natural selection. We are not yet sure what the explanation for novelties is. ... I suspect that the origin of novelties also requires natural selection as well as additional mechanisms, but what they are will have to be determined by more empirical research“ (Wagner 2014, 125).

Autor dieser News: Reinhard Junker

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