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10.05.12  Anpassung durch Verluste

Hughes (2011) stellt ein Modell vor, das schnelle Anpassung und Evolution auf der Basis von Plastizität (umweltbedingte Änderungsmöglichkeiten), ausmerzender („purifying“) Selektion und Gendrift verständlich machen soll („PRM-Modell“, „plasticity-relaxation-mutation mechanism“). Dieses Modell könnte manche Befunde besser erklären als die klassische Synthetische Evolutionstheorie, eignet sich aber nicht als Erklärung der Entstehung evolutiver Neuheiten (Makroevolution; vgl. Mikro- und Makroevolution).

Austin L. Hughes von der University of South Carolina schlägt in einem kürzlich veröffentlichten Überblicksartikel einen Evolutionsmechanismus ohne positive Selektion vor. Unter positiver Selektion versteht Hughes die Fixierung eines neuen oder bisher seltenen Allels (=Zustandsform eines Gens) durch die Wirkung von Selektion. Im ersten Teil seines Artikels weist er darauf hin, dass es nur wenige gut dokumentierte Beispiele für die Leistungsfähigkeit positiver Selektion gebe; es sei auch methodisch schwierig, positive Selektion auf molekularer Ebene nachzuweisen.

Anstelle positiver Selektion sollen phänotypische Plastizität (durch Umweltbedingungen ausgelöste Änderungen) und Änderungen in der Wirkung der eliminativen (=ausmerzenden) Selektion sowie die Gendrift (=zufällige Änderungen von Allelhäufigkeiten ohne Selektion) die hauptsächlichen Faktoren der phänotypischen Evolution sein. Hughes bezeichnet den vorgeschlagenen Mechanismus als PRM-Mechanismus: „plasticity-relaxation-mutation mechanism“. Dahinter verbirgt sich folgendes Konzept:

– Alle Lebewesen sind „plastisch“, d. h. sie können je nach Umwelteinflüssen Merkmale unterschiedlich ausprägen.

– Lebt eine Art dauerhaft in einer relativ konstanten Umgebung, werden bestimmte plastische Fähigkeiten nicht genutzt, weil sie nicht (mehr) benötigt werden, d. h. die ausgeprägte Plastizität wird geringer.

– Die Folge ist, dass durch Mutation auftretende Verluste eines Entwicklungswegs nicht mehr durch Selektion ausgemerzt werden. Denn die Phänotypen (=äußere Gestalt), die der eliminativen Selektion („purifying selection“) zum Opfer fallen würden, werden ohnehin nicht ausgeprägt. Im Laufe der Zeit gehen also aufgrund der Verlustmutationen nicht mehr benötigte optionale Fähigkeiten verloren und diese sind dann auch nicht mehr bei Bedarf abrufbar. Diese in der neuen Umwelt neutralen Mutationen können durch Gendrift fixiert werden.

Der PRM-Mechanismus könne – so Hughes – leicht Fälle von explosiver adaptiver Radiation erklären, ebenso die zunehmenden Beispiele schneller ökologischer Anpassungen. Hughes nennt einige Hinweise dafür, dass der PRM-Mechanismus verbreitet sei und diskutiert Testmöglichkeiten.

Wird die Entstehung evolutiver Neuheiten erklärt? Diese Frage kann eindeutig verneint werden. Denn der durch das PRM-Modell beschriebene Vorgang ist sowohl genetisch als auch phänotypisch ausschließlich ein Verlustprozess. Die durch den PRM-Mechanismus erreichte Anpassung beruht in doppelter Hinsicht auf einem Verlust: zum einen auf Verlustmutationen (die nicht ausgemerzt werden können, weil die betroffenen ontogenetischen Entwicklungswege nicht mehr genutzt und damit nicht mehr der Selektion ausgesetzt werden) und zum anderen auf den damit einhergehenden Verlust ursprünglich möglicher Entwicklungswege (was die Plastizität und Anpassungsfähigkeit an verschiedene Umweltbedingungen einschränkt). Chevin & Beckerman (2011, 1) kritisieren, dass das PRM-Modell nicht Anpassungen, sondern Spezialisierungen erklären würde; man kann aber wohl sagen, dass es engere Anpassungen erklärt, was auf „Spezialisierung“ hinausläuft. Chevin & Beckerman meinen vermutlich, dass der Ursprung der betreffenden Merkmale nicht erklärt wird, womit sie Recht haben dürften.

Daher muss bezweifelt werden, ob Radiationen größeren Ausmaßes wie etwa die Entstehung der verschiedenen Säugerordnungen durch das PRM-Modell beschrieben werden können. Denn eine solche gewaltige Radiation erfordert die Entstehung von vielen tiefgreifenden Neuheiten, die kaum aus einer ursprünglichen Plastizität eines gemeinsamen Vorfahren hervorgegangen sein können. Denn das würde nach dem PRM-Modell bedeuten, dass der gemeinsame Vorfahr der heutigen Säugetiere Fledermäuse, Wale, Huftiere, Seekühe, Ameisenbären und viele andere Baupläne in sich vereinigt hätte, was nicht glaubhaft ist. Dagegen dürfte das PRM-Modell für Radiationen im Rahmen eines deutlich enger abgesteckten Bauplans passend sein, etwa bei der Entstehung der Vielfalt der Buntbarsche (Cichliden) in den ostafrikanischen Seen. Beispiele von Veränderungen dieser Art bewegen sich im Rahmen dessen, was auch experimentell oder in Freilandstudien beobachtet werden kann. In solchen Fällen nachweislich schneller ökologischer Anpassungen (von denen mittlerweile etliche bekannt sind) erscheint das PRM-Modell gegenüber der synthetischen Evolutionstheorie überlegen. Denn das PRM-Modell kann die Schnelligkeit des Erwerbs der unterschiedlichen Anpassungen besser erklären: Die unterschiedlichen Anpassungen müssen nicht erst in einem langwierigen Prozess des seltenen Auftretens und allmählichen Fixierens von vorteilhaften Mutationen erworben werden, sondern stehen zu Begin bereits zur Verfügung.

Literatur

Chevin LM & Beckerman AP (2011) From adaptation to molecular evolution. Heredity, doi: doi:10.1038/hdy.2011.96

Hughes AL (2011) Evolution of adaptive phenotypic traits without positive Darwinian selection. Heredity, advance online publication. doi:10.1038/hdy.2011.97

Autor dieser News: Reinhard Junker

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