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09.02.09  Der einfachste Vielzeller kommt groß heraus

Besondere Aufmerksamkeit erhielt Anfang des Jahres der sehr einfach gebaute Vielzeller Trichoplax adhaerens (Abb. siehe http://idw-online.de/pages/de/news297821). Der zu den Placozoa („Plattentiere“) gehörende Organismus (der einzige Vertreter dieses Stammes) soll der „Urvater“ der Tiere sein. Das nur wenige Millimeter große Geschöpf ist in allen warmen Meeren zu Hause. Ungewöhnlich einfach gebaut ist Trichoplax insofern, als nur vier somatische Zelltypen vorkommen (der Mensch besitzt über 200) und es das kleinste Vielzeller-Erbgut besitzt. Das Tier besitzt keine Körperachse, keinen Kopf, keinen Fuß und keine Organe. Daher nimmt Trichoplax eine isolierte Stellung im Vergleich zu allen anderen Vielzeller-Stämmen ein (Schierwater et al. 2009, 0036). Aufgrund des überaus einfachen Baus war Trichoplax natürlich schon zuvor ein Kandidat für die evolutionäre Position als Urahn der heute lebenden Vielzeller.

Neue umfangreiche Analyse. Nun hat eine umfangreiche Analyse von etwa 9400 genomischen, mitochondrialen, RNA-Struktur- und morphologischen Merkmalen zu neuen überraschenden Erkenntnissen geführt. Unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen ist es nach diesen Daten nicht mehr möglich, eine evolutive Reihe von Trichoplax über die Nesseltiere (Cnidarier) und Rippenquallen (Ctenophoren) zu den Bilateriern (zweiseitig symmetrische Tiere) zu rekonstruieren, sondern beide Gruppen müssen als verschiedene Entwicklungsäste innerhalb der Vielzeller interpretiert werden, die sich sehr früh aufgespaltet haben (Abb. bei http://idw-online.de/pages/de/news297821).

Entgegen mancher Behauptungen in der Presse, dass damit eine bisherige Lücke geschlossen würde, wird eine neue und größere Lücke aufgerissen: Denn nach den neuen Daten müssen zwei parallele Übergänge von einem Trichoplax-ähnlichen hypothetischen Vorfahren ausgehend erfolgt sein: Zum einen zu einer Gruppe bestehend aus den Schwämmen, Nesseltieren und Rippenquallen und zum anderen zu den Bilateriern, zu denen alle anderen Tiere gehören und die den Großteil aller vielzelligen Tiere ausmachen. Die Lücke zwischen den Placozoa und den Bilateriern ist dadurch größer geworden als zuvor, während die Lücke zu den anderen Gruppen geblieben ist.1

Die stammesgeschichtliche Position der basalen Vielzeller (Metazoa) (die einfacheren Bilateria, Nesseltiere, Rippenquallen, Schwämme und Placozoa) war bisher sehr kontrovers diskutiert worden, da es viele einander widersprechende Datensätze gibt (Schierwater et al. 2009, 0036 und dortige Fig. 1; vgl. Blackstone 2009). Die Mittlerrolle dieser Gruppen zu den Bilateriern war also bis zuletzt schon problematisch. Die Widersprüche werden durch die neue umfangreiche Analyse nicht aus der Welt geschafft. Der neue Gesamtbefund spricht nun aber für einen neuen, überraschenden Stammbaum mit zwei Hauptästen, die sich direkt an der Basis aufzweigen (s. Abb. bei http://idw-online.de/pages/de/news297821).

Parallelentwicklung. Warum hatte man bisher eine einzige Evolutionsreihe primitiver Vielzeller angenommen? Der Grund ist, dass eine frühe Trennung der beiden Gruppen eine unabhängige Parallelentwicklung der komplexen Baupläne in beiden Ästen des Baums erfordert. Die Körperachse, das Nervensystem, Sinnesorgane u. a. müssen also zweimal unabhängig (parallel) entstanden sein. Das hatte man nicht erwartet, es muss aber aufgrund der neuen Phylogenie so angenommen werden. Immerhin weisen die Organsysteme der Tiergruppen der beiden Hauptäste durchaus auch deutliche Unterschiede auf, was die Deutung als Parallelentwicklung etwas erleichtert.

Wie konnte es zu einer so weitreichenden Parallelentwicklung kommen? „Die auffallenden Ähnlichkeiten bei mehreren komplexen Merkmalen (wie den Augen) resultierten daraus, dass beide Linien denselben genetischen Baukasten nutzen, der bereits im gemeinsamen Vorfahren vorhanden war“ (Schierwater et al. 2009, 0037).2 Wird also das heute lebende Trichoplax als Modell für den hypothetischen gemeinsamen Vorfahren aus dem Stamm der Placozoa zugrundegelegt, bedeutet dies, dass die genetischen Grundlagen bereits vor der morphologischen Komplexität der anderen Vielzellergruppen vorhanden waren. Auf dieser Basis sei eine Parallelentwicklung der Organe und der Herausbildung der Körperachse nachvollziehbar.2

Ein genetisch komplexer Vorfahr wurde schon seit einiger Zeit angenommen, weil sich gezeigt hat, dass bei verschiedensten Tiergruppen die gleichen Regulationsgene, die für die Bildung von Organen erforderlich sind, aktiv sind (vgl. Evo-Devo). Der neue Befund passt in diese Entwicklung, wirft aber wie zuvor schon die Frage auf, wie sich dieser genetisch komplexe Vorfahr entwickeln konnte und wofür er die überraschend reiche genetische Ausstattung überhaupt hat. In einer Pressemitteilung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover wird Schierwater zitiert: „Die zugrunde liegenden genetischen Anlagen sind bei allen Tieren sehr ähnlich. Placozoa haben alle Anlagen in ihrem Genom, um ein Nervensystem auszubilden, aber sie machen es nicht. Sie könnten, aber sie müssen nicht.“ Sind die Placozoa also genetisch komplexer als nötig? Kritisch anzumerken ist auch: Der schon in Trichoplax vorhandene (und entsprechend beim hypothetischen Placozoa-Vorfahr angenommene) genetische Baukasten ist nur eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Voraussetzung für die (sogar parallele) Entwicklung eines Nervensystems.

Widerspruch zu evolutionärem Grundprinzip. Schierwater erklärt in der genannten Pressemitteilung außerdem: „Diese sehr überraschende Parallelentwicklung von niederen und höheren Tieren widerspricht einem bisherigen Grundprinzip evolutionsbiologischen Denkens, nämlich, dass sich komplexere Formen graduell aus einfacheren Formen ableiten. … Hier müssen wir wohl umdenken.“ Das Paradigma „von einfach nach komplex“ muss aus zwei Gründen überdacht werden: Zum einen muss der anzunehmende gemeinsame Vorfahre aller Vielzeller unerwartet komplex gewesen sein (s. o.). Zum anderen betrifft das Umdenken die Stellung der „niederen Tiere“ (Nesseltiere, Rippenquallen und Schwämme): Sie stehen nun nicht mehr an der Basis der Bilaterier. Die „höheren Tiere“ können auf der Basis der Ergebnisse von Schierwater und Mitarbeitern nicht mehr von diesen abgeleitet werden. Die oben erwähnten Unterschiede im Bau der Organe erscheinen unter dem Eindruck der neuen Befunde und des dadurch erforderlichen Umdenkens offenbar in einem neuen Licht.

Dieses Umdenken zeigt einmal mehr die Flexibilität von Evolutionstheorien, die sich hier darin zeigt, dass sogar ein „Grundprinzip evolutionsbiologischen Denkens“ (Schierwater) widerlegt werden kann, ohne dass der Theorie der geringste Schaden entsteht. Durch die neuen Erkenntnisse wird das Problem der Entstehung weiter zurückverlegt, doch dabei wird es immer schwerer, die erstmalige evolutive Entstehung der ursprünglich schon vorhandenen Komplexität nachzuvollziehen.

Man kann gespannt sein, wie die weitere Entwicklung der Forschung verlaufen wird. Zur Stammesgeschichte der Tiere ist sicher das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.

 

Anmerkungen

1 Vergleiche dazu die Statements von Blackstone (2009): „Certainly, a broad literature supports the notion that there are enormous differences between bilaterians and these other early evolving animals. Considerations of regulatory gene evolution, the evolution of the germ line, and patterns of development and aging all suggest a wide gulf between bilaterians and other basal groups.“ Und: „While Schierwater and colleagues have set a new methodological standard for subsequent studies, their results also suggest a gap in our current knowledge: we need a clearer picture of the base of the bilaterian tree to fully understand animal evolution.“

2 „The striking similarities in several complex characters (such as the eyes) resulted from both lineages using the same basic genetic tool kit, which was already present in the common ancestor. The study identifies Placozoa as the most basal diploblast group and thus a living fossil genome that nicely demonstrates, not only that complex genetic tool kits arise before morphological complexity, but also that these kits may form similar morphological structures in parallel.“

 

Quellen

Blackstone NW (2009) A New Look at Some Old Animals. PLoS Biol 7(1):
http://dx.doi.org/10.1371/journal.pbio.1000007

Schierwater B, Eitel M, Jakob W, Osigus HJ, Hadrys H, Dellaporta SL, Kolokotronis SO, DeSalle R (2009) Concatenated Analysis Sheds Light on Early Metazoan Evolution and Fuels a Modern „Urmetazoon“ Hypothesis. PLoS Biol. 7(1): http://dx.doi.org/10.1371/journal.pbio.1000020

Von Brethorst S (2009) Unerwartete Evolution.
http://idw-online.de/pages/de/news297821 (Pressemitteilung)

Autor dieser News: Reinhard Junker

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