Evolution: Biologie - Mikro- und Makroevolution  

Evolution: Biologie

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Experten: Mikro- und Makroevolution

Inhalt

Eine Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution muss sich an der Qualität der Veränderungen der Lebewesen und an entsprechenden unterschiedlichen Fragestellungen (kurz: Optimierung oder Konstruktion) orientieren. Nur dann kann die Frage nach der Entstehung des Neuen in der Biologie adäquat formuliert und darauf Forschung aufgebaut werden. Argumente für eine Gleichsetzung von Mikroevolution und Makroevolution werden als unbegründet zurückgewiesen.

mikroevolution makroevolution evolution schöpfung evolutionsbiologie Einleitung

mikroevolution makroevolution evolution schöpfung evolutionsbiologie Vorschläge für die inhaltliche Bestimmung

mikroevolution makroevolution evolution schöpfung evolutionsbiologie Plädoyer für einen qualitativen Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution

mikroevolution makroevolution evolution schöpfung evolutionsbiologie Argumente für die Gleichsetzung beider Begriffe

mikroevolution makroevolution evolution schöpfung evolutionsbiologie Grundtypen, Polyvalenz und Makroevolution

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Einleitung

In der Diskussion um die Evolutionstheorie ist das Begriffspaar Mikroevolution – Makroevolution von zentraler Bedeutung. Die inhaltliche Bestimmung ist allerdings sehr uneinheitlich, und nicht selten wird diese Begriffsdifferenzierung mindestens in der Frage der Mechanismen der Evolution für unnötig erachtet. Die Verwendung dieser Begriffe wäre demnach nur sinnvoll, um graduelle Unterschiede im Ausmaß von evolutionären Veränderungen zum Ausdruck zu bringen; es gebe letztlich nur einen Evolutionsmechanismus und keine qualitativen Unterschiede – weder in den Mechanismen noch in den Ähnlichkeitsabstufungen der Lebensformen.

Damit sind wir schon mitten in der Kontroverse, denn das Begriffspaar Mikroevolution - Makroevolution wird oft verwendet, wenn es um die Frage geht, wie gut die Theorie von einer allgemeinen Evolution aller Lebewesen begründet ist und ob die Mechanismen für eine umfassende Evolution der Lebewesen als aufgeklärt gelten können. Diese Frage wird innerhalb der Evolutionsbiologie auch heute durchaus kontrovers diskutiert.

Die Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution ist keineswegs eine Erfindung der Kreationisten, wie manchmal behauptet wird, sondern wird in der Geschichte der Evolutionsbiologie schon lange verwendet (Waschke 2000, 2006) und bis heute wird in der Evolutionsbiologie häufig davon Gebrauch gemacht, wie eine Recherche in PubMed zeigt. Auch wenn diese Begriffe nicht als solche verwendet werden, wird doch häufig implizit ein qualitativer Unterschied zwischen einer evolutiven Feinabstimmung und der Entstehung von Neuem in Publikationen und den verwendeten Formulierungen vorausgesetzt. So behaupten Marc Kirschner und John Gerhart im Vorwort ihres 2005 erschienenen Buches „The plausibility of life“, dass erst mit dem Wissen, das Ende des 20. Jahrhunderts bekannt wurde, die Frage nach der Entstehung evolutiver Neuheiten angegangen werden könne. Ihre in diesem Buch vorgestellte „Theorie der erleichterten Variation“ („theory of facilitated variation“) verstehen sie als Vervollständigung der Synthetischen Evolutionstheorie (S. x, 29). Sie soll die Entstehung von Neuem in der Evolution erklären und damit ein ernsthaftes Defizit der der Synthetischen Theorie ausfüllen.

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Vorschläge für die inhaltliche Bestimmung

Das Begriffspaar Mikroevolution und Makroevolution wurde 1927 von Philiptschenko eingeführt, der Sache nach war eine entsprechende Unterscheidung aber schon lange davor in der Diskussion. In der Geschichte der Biologie wurde und wird mit dem Begriff „Makroevolution“ recht unterschiedlich umgegangen (nach Waschke 2000, 2006):

1. Manche Autoren verwenden ihn, um auf unterschiedliche Mechanismen innerhalb der Evolution hinzuweisen. Darwins gradualistische Mechanismen würden demnach nicht ausreichen, um die Entstehung der Baupläne des Lebens zu erklären.

2. Der Begriff „Makroevolution“ wird mit der Begründung abgelehnt, es gebe nur einen Evolutionsmechanismus.

3. Er wird vornehmlich deskriptiv (=beschreibend) verwendet, ohne eine Aussage über Mechanismen zu machen. So wird der Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution häufig deskriptiv an Taxongrenzen festgemacht, wenn etwa Evolution oberhalb des Art- oder Gattungsniveaus als „Makroevolution“ bezeichnet wird. Oder es wird nach Disziplinen unterteilt. Damit ist gemeint, dass Makroevolution von Paläontologen und vergleichenden Anatomen erforscht wird und einen Bereich beschreibt, der experimentell nicht zugänglich ist. Hier gehe es um singuläre (=einmalige), fast als historisch zu bezeichnende Ereignisse

Auch eine Unterteilung nach Forschungsbereichen wurde vorgeschlagen. Futuyma (1998, S. 677) rechnet zu Makroevolution z. B. die Fragen, wie komplexe, funktionell integrierte Systeme evolviert sind, ob es Trends in der Evolution gebe und wie sie erklärt werden können. Mit solchen Fragen wird offenbar die Option besonderer Mechanismen für Makroevolution offengehalten.

Neben diesen von Waschke beschriebenen Unterscheidungskriterien gibt es aber auch noch eine weitere Möglichkeit, Mikroevolution und Makroevolution zu unterscheiden, nämlich indem man beiden Begriffen verschiedene Fragestellungen bzw. Erklärungsprobleme zuordnet. Kurz:

Mikroevolution: Wie werden vorhandene Konstruktionen der Lebewesen optimiert?

Makroevolution: Wie entstehen Konstruktionen erstmalsde novo?

Auf diese Unterscheidung werden wir weiter unten zurückkommen.

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verständnisse ist eine möglichst klar gefasste Definition dieses Begriffes und eine Begründung für die gewählte Definition unerlässlich. Die Wahl der Definition impliziert nämlich eine Vorentscheidung in kontroversen Fragen zur Evolution der Lebewesen und ihrer Mechanismen. Damit ist folgendes gemeint: Hält man die Unterscheidung der Begriffe Mikroevolution und Makreovoluton für fehl am Platz (2. Gruppe) oder versteht man sie nur im o. g. deskriptiven Sinne (3. Gruppe), besteht die Tendenz, die Mechanismenfrage für Evolution insgesamt als im Wesentlichen gelöst zu betrachten. Denn Variationsmechanismen sind bekannt und experimentell vielfach nachgewiesen (siehe z. B. Mutation und Natürliche Selektion), auch Prozesse der Artbildung (siehe Artbildung) können plausibel gemacht werden. Hält man nun weiter (wie das meistens der Fall ist) Evolution als Gesamtablauf der Geschichte des Lebens für eine Tatsache, ist es nur noch ein kurzer Schritt, auch die bekannten Variationsmechanismen als ausreichend für die Erklärung der Evolution aller Lebewesen zu betrachten.

Betrachtet man jedoch die eperimentell belegten Variationsprozesse für nicht ausreichend, um die Entstehung von evolutionär Neuem zu erklären, stellt sich im Sinne der 1. Gruppe die Frage, ob dafür besondere Vorgänge postuliert werden müssen, die noch zu entdecken sind. Dann aber stellt sich auch die Frage der Evolutionskritiker, ob es solche Mechanismen überhaupt gibt. Eine ergebnisoffene Forschung muss diese Option in Betracht ziehen.

Man könnte auch sagen, dass Vertreter der Gruppe 2 sich die Frage zu einfach machen, wenn sie die bekannten Variationsmechanismen deswegen als ausreichend zum Verständnis der Entstehung von Neuem betrachten, weil es nur einen Evolutionsmechanismus gäbe oder weil man keine anderen kenne. Ob dem aber so ist, ist ja gerade offen, daher wirkt die Position der Gruppe 2 willkürlich bzw. wie ein Ausweichen vor den entscheidenden Fragen nach dem Mechanismen des evolutionären Wandels.

Beim Streit um das Begriffpaar Mikroevolution und Makroevolution geht es also letztlich um die Reichweite der bekannten Evolutionsfaktoren (verschiedene Typen von Mutationen, Selektion, Gendrift usw.) und darum, ob sich aufgrund empirischer Befunde Grenzen der Evolutionsfähigkeit der Lebewesen abzeichnen bzw. ggf. wie eng diese Grenzen sind.

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Plädoyer für einen qualitativen Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution

Der Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution kann sinnvollerweise nicht an Taxongrenzen oder mittels anderer formaler bzw. bloß deskriptiver Kriterien festgemacht werden, sondern muss sich an Qualitäten orientieren. Der Unterschied kann auch nicht an verschiedenen Mechanismen im Sinne der ersten o.g. Gruppe festgemacht werden, denn die Frage ist offen, ob es überhaupt wesentlich andere als die bisher bekannten Mechanismen gibt, die gegenwärtige Erklärungsdefizite in der Mechanismenfrage ausfüllen können. Vielmehr geht es um einen Unterschied zwischen den zu lösenden Problemen: In zwei Schlagworten ausgedrückt: Variation oder Konstruktion. Daher soll in Anlehnung an Junker & Scherer (2001) definiert werden:

Mikroevolution: Variationsvorgänge auf der Basis bereits vorhandener Konstruktionen.

Durch Mikroevolution werden demnach Optimierungsprobleme gelöst.

Makroevolution: Entstehung neuer Konstruktionen oder ein grundlegender Umbau, der zu völlig neuen Funktionen und letztlich zu neuen Bauplänen führt (vgl. Abb. 26 und Abb. 257 ).

Durch Makroevolution werden demnach Konstruktionsprobleme gelöst.

Diese kurzen Definitionen sollen nachfolgend erläutert werden.

Charakterisierungen von „Mikroevolution“. Mikroevolution umfasst Spezialisierungen an besondere Umweltbedingungen, Optimierungen einzelner Merkmale, Feinabstimmungen oder auch Rückbildungen(siehe Rudimentäre Organe). Man könnte Mikroevolution als „Variation eines Themas“ beschreiben oder als „Überlebensstrategien“ charakterisieren. Eine Konsequenz dieser Definition ist, dass auch Artbildung in den mikroevolutiven Bereich fällt.

Optimierungen sind als Spezialisierungen eines variablen Merkmals zu verstehen. Beispielweise wurden Getreide züchterisch auf möglichst großen Ertrag hin optimiert. Optimierungen gehen erfahrungsgemäß oft auf Kosten anderer Fähigkeiten und sind relativ zur jeweiligen Umwelt zu beurteilen und nicht als Verbesserungen einer zuvor unvollkommenen Struktur zu verstehen. Wichtig ist, dass einer Optimierung immer ein funktionsfähiges System zugrunde liegt, das über zufällige Variation der Systemparameter an vorgegebene Kriterien angepasst wird.

Auch alle Vorgänge sind mikroevolutiv, die zur Ausprägung genetisch bereits angelegter Information führen, z. B. wenn durch Umweltreize bestimmte Erbanlagen aktiviert werden. Ein Beispiel: Studien an Stichlingen zeigen, dass nur wenige Veränderungen an einigen bestimmten Stellen im Erbgut der Fische genügen, um größere Veränderungen im Aussehen zu verursachen, z. B. die Ausprägung von knöchernen Panzerplatten und Bauchstacheln. Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass es ein fein abgestimmtes Netz von genetischen Programmen gibt, die durch einige wenige „Schaltergene“ gesteuert werden. Die Herkunft der Bauteile wird durch diese Befunde jedoch nicht erklärt (Winkler 2005).

Charakterisierungen von „Makroevolution“. Hier ist eine möglichst genaue Bestimmung dessen erforderlich, was unter „neuen Konstruktionen“ bzw. einem „grundlegenden Umbau“ zu verstehen ist, und eine quantitative Charakterisierung ist erstrebenswert. Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution illustrieren: Mikroevolution wäre die Variation der Form des Hornschnabels von Vögeln (vgl. Abb. 258). Ein Vogelschnabel kann kurz und dick sein (gut zum Knacken harter Kerne), er kann aber auch fein und lang sein (was z. B. gut für das Stochern nach Insekten in Baumrinden ist). Makroevolution dagegen ist die erstmalige Entstehung des Hornschnabels von Vögeln aus einem bezahnten Kiefer eines Vorläuferreptils (wobei das genetische Potential für die Ausbildung des Schnabels auch nicht latent zuvor schon vorhanden war). Dabei wären in mehrfacher Hinsicht Umbauten erforderlich, die mit bloßen Variationen (dicker, dünner, länger, kürzer) nicht zu erreichen sind. Außerdem kann ein Hornschnabel deutlich andere Funktionen ausüben als ein bezahnter Kiefer. Ein Hornschnabel ist aus anderem Material als Zähne aufgebaut; die Muskulatur muss angepasst sein, das Verhalten (Nahrungserwerb, Fressbewegungen) muss entsprechend abgestimmt sein, die Integration des Schnabels im Schädel ist anders als bei einem Zahnkiefer usw.

Ein zweites Beispiel: Der Ersatz von Schwingkölbchen eines Zweiflüglers durch ein zweites Flügelpaar durch eine homeotische Mutation ist Mikroevolution, weil auf vorhandenes Potential zurückgegriffen wird (den Bauplan „Flügel“ gab es schon vor dieser Mutation). Makroeevolution wäre die erstmalige Entstehung eines häutigen Insektenflügels mit dem dazu notwendigen Bewegungsapparat.

Irreduzible Komplexität. Der „springende Punkt“ ist der Erwerb einer grundsätzlich neuen Funktion. Um neue Funktionen ausüben zu können, ist nach allem, was man über lebende Systeme weiß, das Zusammenwirken mehrerer Bestandteile erforderlich. Diese Bestandteile mag es zuvor bereits in anderen Funktionszusammenhängen schon gegeben haben, aber ihre neue und anders abgestimmte Konstellation ermöglicht eine neue Funktion. Michael Behe (1996) hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „irreduziblen Komplexität“ in die Diskussion eingeführt (vgl. Nichtreduzierbare Komplexität. Ein System ist nach Behe irreduzibel komplex, wenn es notwendigerweise aus mehreren fein aufeinander abgestimmten, interagierenden Teilen besteht, die für eine bestimmte Funktion benötigt werden, so dass die Entfernung eines beliebigen Teils die Funktion restlos zerstört (zur Diskussion von Kritik siehe Nichtreduzierbare Komplexität). Der Aufbau irreduzibel komplexer Systeme erfordert demnach mehrere aufeinander abgestimmte Veränderungen oder Innovationen, die gleichzeitig auftreten müssen. Ein solches Ereignis wäre zweifellos ein makroevolutiver Schritt, doch ist dergleichen experimentell nicht demonstriert worden und es gibt dafür auch keine theoretischen Modelle (vgl. Nichtreduzierbare Komplexität).

Im biochemischen Bereich können bei genauerer Kenntnis der Struktur-Funktionsbeziehungen minimal nötige Schritte von einem selektionspositiven Zustand zu einem anderen mit neuer Funktion abgeschätzt werden. Scherer (1995) hat zu diesem Zweck den Begriff „Basisfunktionszustand“ eingeführt, den er wie folgt definiert: „Zwei Basisfunktionszustände sind gegeben, wenn der postulierte Übergang zwischen ihnen nicht mehr in weitere selektionspositive Zwischenstufen unterteilt werden kann“ (Scherer 1995, 86; vgl. Beispiel Bakterienmotor). Nach allen gegenwärtigen biologischen Kenntnissen liegen Basisfunktionszustände deutlich zu weit auseinander, um durch die bekannten ungerichtete Variationsprozesse überbrückt werden zu können.

Nach bisheriger Kenntnis erfordert der Erwerb neuer biologischer Apparate (mit neuen Funktionen, die hypothetische Vorläuferformen noch nicht hatten) eine größere Anzahl von Mutationen, die in einer einzigen Generation und aufeinander abgestimmt eintreten müssten (vgl. „irreduzible Komplexität“, s. o.). Kennzeichnend für einen makroevolutionären Übergang ist die Notwendigkeit vieler unabhängiger zusammenpassender Änderungen, die ablaufen müssen, um eine neue funktionsfähige Struktur zu erhalten. Dafür aber gibt es bislang keine experimentellen Belege, und theoretische Modelle sind gewöhnlich nur vage formuliert und basieren auf zu stark vereinfachenden Vorstellungen über den untersuchten Gegenstand (eine Begründung dafür wird im PDF zu diesem Artikel gegeben: Mikro- und Makroevolution).

Die hier aufgestellte Behauptung, dass es (aufgrund verschiedener zu lösender Probleme) einen qualitativen Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution gibt, muss sich durch die weitere Forschung bewähren. Nötig ist einerseits ein vertieftes Verständnis von Struktur und Funktion konkreter untersuchter biologischer Strukturen und andererseits weitere Kenntnisse über Variationsmechanismen. Ziel muss sein, die Kluft zwischen zwei Basisfunktionszuständen möglichst quantitativ zu bestimmen. Auf einer solchen Basis kann dann die Leistungsfähigkeit der Variationsmechanismen in konkreten Fällen exakter als bisher eingeschätzt werden.

Schluss von Mikroevolution auf Makroevolution. Nach gegenwärtigem Wissensstand kann nicht von der Realität mikroevolutiver Vorgänge auf die Möglichkeit einer Makroevolution extrapoliert werden. Das wird einsichtig, wenn man sich beispielsweise klarmacht: Man kann aus der Variation der Vogelschnabel-Formen nicht schließen, dass sie zuvor durch einen Umbau aus einem bezahnten Kiefer hervorgegangen sind. Oder: Der Erwerb von Antibiotikaresistenz bei Bakterien liefert kein Modell für die Entstehung ihrer komplexen Apparate wie etwa des Rotationsmotors usw. Oder: Der Ersatz von Schwingkölbchen eines Zweiflüglers durch ein zweites Flügelpaar infolge einer homeotischen Mutation (Abb. 57 unten rechts) bedeutet zwar einen auffälligen Gestaltwandel, liefert aber keine Anhaltspunkte dafür, wie erstmals ein häutiger Insektenflügel mit dem dazu notwendigen Bewegungsapparat entstanden ist.

Allgemein gesagt: Wenn wir verstehen, wie vorhandene Konstruktionen variiert oder spezialisiert werden können, wissen wir damit noch nichts darüber, wie diese erstmals entstanden sind. Durch Mikroevolution können Anpassungs- oder Optimierungsprobleme gelöst werden, Makroevolution dagegen erfordert die Lösung des Konstruktionsproblems.

Unscharfe Abgrenzung? Wie beim Beispiel des Vogelschnabels ist in der überwiegenden Zahl der Fälle sofort erkennbar, ob eine Änderung von einem Zustand A zu einem Zustand B mikroevolutiver oder makroevolutiver Art ist. Andererseits gibt es auch Beispiele, bei denen die Abgrenzung schwieriger oder ohne genauere Untersuchung unmöglich ist. Ist beispielsweise der Erwerb einer neuen enzymatischen Funktion eines Proteins Mikro- oder Makroevolution? Ist der Erwerb einer Giftresistenz bereits Makroevolution? Zur Beantwortung sind genauere Kenntnisse über Stoffwechsel und Genetik erforderlich, um die betreffende Änderung realistisch beurteilen zu können. Hier müssen Einzelfallstudien Klarheit verschaffen.

Solche Beispiele von „Grauzonen“ zwischen Mikro- und Makroevolution stellen jedoch die unzweifelhaften Beispiele einer klaren Unterscheidbarkeit von Mikro- und Makroevolution nicht in Frage. Wenn auch eine Abgrenzung der beiden Begriffe (noch?) nicht in jeder Hinsicht und in jedem Einzelfall scharf vorgenommen werden kann – häufig aufgrund noch nicht genügend erforschter Zusammenhänge –, ist eine Unterscheidung dennoch sinnvoll, da die beiden Begriffe verschiedene zu lösende Probleme repräsentieren.

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Argumente für die Gleichsetzung beider Begriffe

Viel Mikroevolution = Makroevolution? Eingangs wurde die Gruppe von Forschern erwähnt, die einen grundlegenden Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution bestreitet. Häufig wird argumentiert: Was in kurzer Zeit nicht abläuft, könne in langen Zeitäumen möglich sein. Viel Mikroevolution ergäbe zwangsläufig Makroevolution. Dies ist jedoch kein substantielles Argument. Die qualitative Gleichsetzung beider Begriffe lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass mit ihnen ganz verschiedene Fragestellungen verbunden sind. Der Zeitfaktor hilft hier nicht, denn lang anhaltende Optimierung oder Spezialisierung führt nicht zu Neukonstruktion; das ist keine Frage des zur Verfügung stehenden Zeitraums. Beispielsweise gibt noch so viel Variation des Vogelschnabels keinerlei Hinweise darauf, wie dieser entstanden (bzw. umgebildet worden) ist. Die zur Verfügung stehende Zeit ist keine Begründung für die Möglichkeit von Makroevolution, sondern allenfalls eine notwendige Voraussetzung.

In diesem Zusammenhang sei auch auf das „Gesetz der rekurrenten Variation“ (Lönnig 1995) hingewiesen (siehe Mutation). Es besagt, dass die Zahl der Mutantentypen begrenzt ist und diese verschiedenen Typen (vielfach) wiederholt („rekurrent“) auftreten, und ist durch zahlreiche Studien experimentell bestens belegt. Da die Mutationsforschung zugleich keine Hinweise auf die Entstehung neuer Konstruktionen erbracht hat, ist die naheliegende Schlussfolgerung aus dem Gesetz der rekurrenten Variation, dass auch eine zeitliche Extrapolation keinen Schlüssel zum Verständnis der Mechanismen von Makroevolution bietet. Kurz: Die Zeit löst nicht das Konstruktionsproblem der Makroevolution.

Keine Hinweise auf besondere Mechanismen für Makroevolution bekannt. Manchmal wird argumentiert, es gebe keine Hinweise auf besondere Mechanismen für Makroevolution; deshalb sei die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroevolution fehl am Platz. Doch aus der Tatsache, dass keine besonderen Mechanismen für Makroevolution gefunden wurden, könnte auch geschlossen werden, dass Makroevolution gar nicht stattfindet. Der Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution ist nicht unbedingt ein Unterschied zwischen den jeweils erforderlichen Mechanismen, sondern ein Unterschied zwischen den zu lösenden Problemen (Variation bzw. Konstruktion). Die Tatsache, dass keine besonderen Makroevolutionsmechanismen gefunden wurden, kann also nicht als Beleg oder Hinweis dafür gewertet werden, dass für Makroevolution mikroevolutive Vorgänge ausreichend sind. (An diesem Punkt wird dann oft argumentiert, dass die Realität einer Makroevolution durch die Paläontologie oder die Vergleichende Biologie erwiesen sei. Doch damit wechselt man argumentativ von der Mechanismenfrage zur den indirekten Indizien, oder modern ausgedrückt vom „process“ zum „pattern“. Doch weder die Paläontologie noch die Vergleichende Biologie liefern einen Prozess oder Hinweis auf Mechanismen.)

Die Anwendung des in der Naturwissenschaft gebräuchlichen Aktualitätsprinzips („gegenwärtige Vorgänge liefern den Schlüssel zum Verständnis für Vorgänge in der Vergangenheit“) lässt nur den Schluss zu, dass evolutionäre Vorgänge auch früher im mikroevolutiven Rahmen verlaufen sind, und stellt sicher ebenfalls kein Argument für die Gleichsetzung von Mikroevolution und Makroevolution dar.

Makroevolution simuliert? Nilsson & Pelger (1994) veröffentlichten eine Computersimulation zur Entstehung des Linsenauges, die große Beachtung fand und häufig zitiert wird. Der simulierte Vorgang hat in der realen Biologie eindeutig eine makroevolutive Dimension. Die Autoren kommen Schluss, dass die Entwicklung eines Linsenauges problemlos denkbar sei.

Doch diese Simulation erklärt nicht das, was sie vorgibt. Zum einen handelt es sich um eine Veränderung eines bereits funktionsfähigen Systems im Sinne einer technischen Optimierung. Die Autoren mussten eine lichtempfindliche Fläche (die spätere Netzhaut) ebenso vorgeben, wie eine Schutzhaut (die spätere Hornhaut) und eine lichtdurchlässige Schicht (die spätere Linse) (Abb. 259). Außerdem war natürlich der biochemische Sehapparat von Anfang an erforderlich. Eine bereits relativ komplexe Struktur zu optimieren ist ein grundlegend anderes Problem als eine solche Struktur erstmals zu entwerfen.

Zum anderen wird das Modell von Nilsson & Pelger der biologischen Realität des Baus des Linsenauges in keiner Weise gerecht. Hansen (2003, 83f.) kritisiert an diesem Modell, es werde vorausgesetzt, dass genetische Variation bei bestimmten Merkmalen wie Größe, Form und optische Eigenschaften der beteiligten Gewebe unabhängig von der Variation anderer Merkmale und vom übrigen Organismus sei. Es gehe weiter davon aus, dass eine kontinuierliche Variation vom anfänglichen Flachauge bis zum finalen komplexen Auge Schritt für Schritt selektiv bewertet werde. Das Modell sei daher mit der Evolution eines eindimensionalen quantitativen Merkmals mit unbegrenzter Variabilität vergleichbar, so als ob das Auge wie ein einzelnes Merkmal evolvieren könne. Dies aber sei in Bezug auf die Evolvierbarkeit des Linsenauges alles andere als eine pessimistische Annahme, wie Nilsson & Pelger behaupten. Ein so komplexes Organ wie das Auge kann mit einem derart einfachen eindimensional variierbaren Merkmal keinesfalls verglichen werden. Die Unabhängigkeit der Variation der einzelnen Elemente des Auges voneinander und vom Rest des Organismus ist nämlich eine ausgesprochen unrealistische Annahme. Das heißt: Der Komplexität und Vernetztheit von organismischen Bauplänen wird in der Nilsson-Pelgerschen Computersimulation nicht einmal entfernt Rechnung getragen; solche Modellrechnungen sind daher gemessen an der heute bekannten biologischen Realität unangemessen, ja sie sind im Grunde genommen irrelevant.

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Grundtypen, Polyvalenz und Makroevolution

Im Rahmen der Grundtypenbiologie wird postuliert, dass die Unterschiede zwischen den Arten, die zum selben Grundtyp gehören, durch mikroevolutive Prozesse etabliert werden konnten. Grundtypen werden wie folgt definiert: „Alle Individuen, die direkt oder indirekt durch Kreuzungen verbunden sind, werden zu einem Grundtyp gerechnet“ (Junker & Scherer 2001, 34). Dabei spielt es keine Rolle, ob die Mischlinge fruchtbar und oder nicht und ob sie im Freiland oder unter Zuchtbedingungen auftreten (zur Grundtypenbiologie siehe Heutige Grundtypen). Beispielsweise bilden die Entenartigen (mit Enten, Gänsen und Schwänen) einen Grundtyp. Detaillierte Ausführungen und ausführliche Beschreibungen zu Grundtypen finden sich in Scherer (1993). Die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten desselben Grundtyps können erheblich sein und ein Ausmaß annehmen, dass sie scheinbar nur durch makroevolutive Veränderungen überbrückt werden können. Hier ist allerdings zu beachten, dass es latente Potenzen und Hinweise auf programmierte Variabilität gibt. Darauf soll abschließend eingegangen werden.

Latente Potenzen. Makroevolutive Veränderungen können unter Umständen vorgetäuscht werden, wenn eine Art die Fähigkeit besitzt, bestimmte Merkmale nur bei Bedarf – ausgelöst durch Umweltreize – auszubilden. Die Biologen sprechen von „latenten genetischen Potenzen“ – verborgene Fähigkeiten im Erbgut. Beispielsweise können Wasserflöhe (Daphnien) ihre äußere Form je nach Salzgehalt des Wassers deutlich ändern. Ein anderes bekanntes Beispiel dieser Art ist der Wasser-Hahnenfuß: er hat drei Blattypen, die je nach Umgebung (Luft, Wasser, Wasseroberfläche) ausgebildet werden. Beispiele wie dieses sind schon lange bekannt und werden unter „Modifikationen“ zusammengefasst. Immer wieder werden bei Lebewesen Fähigkeiten entdeckt, die vorher unbekannt waren und dann quasi als „neue Merkmale“ in Erscheinung treten. Solche Fälle sind keine Beispiele für Makroevolution, denn die betreffenden Merkmale waren vorher bereits im Erbgut vorhanden. Vielmehr sind die Fähigkeit zur Modifikation und latente Potenzen Kennzeichen eines sog. polyvalenten Erbguts der Lebewesen. Polyvalenz bedeutet „Vielwertigkeit“. Gemeint ist damit eine Vielseitigkeit des Erbguts einer Art oder eines Grundtyps, darüber hinaus aber auch die Fähigkeit zur Variationserzeigung („evolvability“) bzw. programmierte Variabilität. So spricht manches dafür, dass es ein teilweise vorprogrammiertes Mutationsspektrum gibt (vgl. das oben erwähnte „Gesetz der rekurrenten Variation“). Eine überblicksartige Dokumentation von Hinweisen auf eine Polyvalenz der Stammformen heutiger Arten innerhalb von Grundtypen bietet der Artikel Genetisch polyvalente Stammformen von Grundtypen.

Potentielle Komplexität. Interessant in diesem Zusammenhang sind Fähigkeiten von Lebewesen, die durch aktuelle Selektionsbedingungen (oder auch durch Selektionsbedingungen ihrer mutmaßlichen Vorfahren) nicht erklärt werden können. Solche Befunde widersprächen allen Ansätzen, die davon ausgehen, daß ein Lebewesen nur sein unmittelbares Überleben sichern muss. Als Erklärung bietet sich hier ebenfalls das Polyvalenz-Konzept an. Zum Polyvalenz-Potential gehören offenbar auch Programme und Mechanismen, die angelegte Fähigkeiten bei Bedarf zur Entfaltung bringen (vor allem ausgelöst durch Umweltreize; s. o.).

Schlussfolgerungen. Der Nachweis von Polyvalenz kann nicht als Hinweis auf die Möglichkeit von Makroevolution gelten. Denn dies basiert auf fertigen Programmen, deren Herkunft durch diese Fähigkeiten und Mechanismen in keiner Weise erklärt wird. Darüber hinaus ist die Existenz von Variationsprogrammen, die erst für zukünftige Erfordernisse relevant sein könnten, evolutionstheoretisch gar nicht zu erwarten, da die Evolutionsmechanismen nicht zukunftsorientiert sein können.

Auch Artbildung ist kein Mechanismus für Makroevolution. Es sind zahlreiche empirische Belege dafür bekannt, dass fortgesetzte Artaufspaltungen durch zunehmende Spezialisierung in evolutionäre Sackgassen führen und ein Ausschöpfen und Ausreizen eines Polyvalenz-Potentials bedeuten.

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Literatur

Behe MJ (1996) Darwin’s Black Box: the Biochemical Challenge to Evolution. New York.

Futuyma DJ (1998) Evolutionary Biology. 3rd ed. Sunderland, Mass.

Hansen TF (2003) Is modularity necessary for evolvability? Remarks on the relationship between pleiotropy and evolvability. Biosystems 69, 83-94. http://bio.fsu.edu/~tfhansen/publist/Hansen2003.pdf

Junker R & Scherer S (2001) Evolution – ein kritisches Lehrbuch. Gießen, 5. Aufl. (eine stark überarbeitete 6. Auflage ist für 2006 in Vorbereitung)

Kirschner MW & Gerhart JC (2005) The Plausibility of Life. Resolving Darwins Dilemma. New Haven and London.

Lönnig WE (1995) Mutationen: Das Gesetz der rekurrenten Variation. In: In!: Mey J, Schmidt, R & Zibulla S (Hg) Streitfall Evolution. Stuttgart, S. 149-165.

Nilsson D & Pelger S (1994) A pessimistic estimate of the time required for an eye to evolve. Proc. R. Soc. Lond. B 256, 53-58.

Scherer S (Hg, 1993) Typen des Lebens. Studium Integrale. Berlin.

Scherer S (1995) Höherentwicklung bei Bakterien: Ist ein molekularer Mechanismus bekannt? In: Mey J, Schmidt, R & Zibulla S (Hg) Streitfall Evolution. Stuttgart, S. 85-104.

Waschke T (2000) Bedeutungsumfang des Begriffs ‘Makroevolution’. www.waschke.de/twaschke/gedank/makroevolution. htm (Zugriff am 1. 10. 2005)

Waschke T (2006) Die Entstehung von grundsätzlich Neuem in der Evolution. http://www.waschke.de/bericht_2.pdf

Winkler N (2005a) Stichlinge: Evolution oder Allelfrequenzverschiebung? Stud. Int J. 12, 76-77.

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Autor: Reinhard Junker, 10.05.2008

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